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Kein deutscher Mandarin

■ Eine Erinnerung an den vergessenen Soziologen Emil Lederer (1882-1939)

Christian Jansen

Die Universität Heidelberg galt in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg als die geistige Hauptstadt eines „anderen Deutschlands“, als Hochburg des süddeutsch-liberalen, antiwilhelminischen politischen Denkens, dann nach der Novemberrevolution als „Musteruniversität des republikanischen Deutschland“. Andererseits ging aber auch hier in den zwanziger Jahren eine schrittweise Anpassung an den autoritären und völkischen Zeitgeist vonstatten. Emil Lederer war der Linksaußen unter den Heidelberger Ordinarien und ermöglichte - im Verein mit Alfred Weber - einer Reihe junger soziologischer Intellektueller die Habilitation, die sie wegen ihrer politischen Einstellung an kaum einer anderen Fakultät in Deutschland hätten erreichen können (zum Beispiel Otto Neurath, Emil Julius Gumbel, Karl Mannheim, Jakob Marschak, Herbert Sultan). Als Nationalökonom lehrte er am Institut für Sozial- und Staatswissenschaften („InSoSta“). Neben der Juristischen Fakultät verdankte Heidelberg seinen Ruf, eine besonders liberale, offene und diskussionsfreudige Universität zu sein, diesem Institut, an dem ebenso bedeutende wie politisch engagierte Professoren lehrten. Zu nennen wären außer den bereits Erwähnten Max Weber, Eberhard Gothein, Edgar Jaffe, Artur Salz, Friedrich Muckle, Edgar Salin und Arnold Bergstraesser. Wegen des „InSoSta“ und seiner legendären „soziologischen Diskussionsabende“ verbrachte eine ganze Generation politisch und intellektuell interessierter Stundenten mindestens ein Semester im „roten Heidelberg“. Wie wichtig Lederer als sozialistisches Gegengewicht zum immer weiter ins konservative Lager abwandernden Carl Brinkmann im Direktorium des „InSoSta“ war, zeigte sich nach seinem Weggang 1931: Der liberale, konservativem Druck aber leicht nachgebende Alfred Weber allein konnte und wollte die Etablierung eines der „konservativen Revolution“ nahestehenden rechten „Think-tank“ unter Brinkmann und Bergstraesser und damit die Anpassung des „InSoSta“ an den intellektuellen Zeitgeist der frühen dreißiger Jahre nicht verhindern.

Lederer stammte aus der multikulturellen Gesellschaft Österreich-Ungarns vor dem Ersten Weltkrieg, genauer: aus dem deutschsprachigen jüdischen Bürgertum Böhmens. Diese Herkunft dürfte eine wesentliche Ursache seines zeitlebens „antispezialistischen Erkenntnisinteresses“ (Kocka) und seiner Vielseitigkeit gewesen sein. 1882 wurde Lederer in Pilsen geboren. Ab 1901 studierte er Jura an der Universität Wien. Seit dieser Zeit war er mit führenden Vertretern des Austromarxismus wie Otto Bauer und Hilferding befreundet. 1907 bis '10 arbeitete Lederer für einen Gewerbeverein eine Tätgkeit, die seine Kontakte zu Sozialdemokraten und Gewerkschaftern und Einblicke in soziale Konflikte erweiterte. 1907 heiratete er die Fabrikantentochter Emy Seidler, die zu einem Kreis ungarischer Linksintellektueller gehörte; über sie lernte Lederer unter anderem Karl Mannheim und Georg Lukacs kennen, die später durch ihn an die Universität Heidelberg kamen. Der Heidelberger Ordinarius und spätere Finanzminister der Münchner Räterepublik Edgar Jaffe engagierte 1910 den durch wissenschaftlich fundierte, aber radikale sozialpolitische Auffassungen hervortretenden Lederer als Redaktionssekretär für das von ihm, Max Weber und Werner Sombart herausgegebene 'Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik‘. Im Januar 1911 habilitierte sich Lederer in Heidelberg für Nationalökonomie. Er konnte froh sein, denn im Kaiserreich waren seine Aussichten, eine Professur zu erreichen, wegen seines Radikalismus‘ denkbar schlecht. Erst 1918, nachdem er als Privatdozent mehrere Semester Alfred Weber vertreten hatte, der sich 1914 als Kriegsfreiwilliger gemeldet hatte und später hauptsächlich in Berlin in verschiedenen Ministerien arbeitete, ernannte ihn das badische Unterrichtsministerium zumindest zum außerordentlichen Professor. Dies war nur ein Ehrentitel, der mit keinerlei finanziellen Vorteilen verbunden war und in der Regel drei Jahre nach der Habilitation, während des Krieges an stromlinienförmig-nationalistische Dozenten häufig bereits nach wenigen Monaten verliehen wurde. 1920 bekam Lederer eine planmäßige Stelle, 1922 als Nachfolger Gotheins ein Ordinariat. Von 1924 bis 1926 lehre er an der Universität Tokio. Sein Aufenthalt im Fernen Osten, über den er in einem gemeinsamen mit Emy Seidler verfaßten vielbeachteten Buch Japan - Europa (Frankfurt 1928, USA 1938) berichtet hat, steht in einer langen Reihe von Gastprofessuren Heidelberger Gelehrter in Japan, zu denen insbesondere Philosophen und Soziologen eingeladen wurden, wie auch umgekehrt außergewöhnlich viele japanische Studenten nach Heidelberg kamen. 1931 übernahm Lederer einen der angesehensten nationalökonomischen Lehrstühle, den Sombarts an der Berliner Universität. Wie bei einem sozialistischen und gewerkschaftsnahen Gelehrten nicht anders zu erwarten, gab es aus der Fakultät heftige Widerstände gegen den Ruf von Lederer. Im April 1933 wurde sie ihn wieder los: nach einer Tagung des Internationalen Arbeitsamtes in Paris kehrte Lederer nicht nach Deutschland zurück, sondern ging nach London. Dort konnte ihn Alvin Johnson für seinen Plan begeistern, an der von ihm geleiteten „New School for Social Research“ eine „Graduate Faculty“ zu bilden, an die vorzugsweise Emigranten berufen werden sollten. Für dieses idealistische und später berühmt gewordene Projekt, dessen geistiger Kopf Lederer bis zu seinem frühen Tod 1939 war, schlug er besserdotierte Universitätsstellen aus.

Als Redakteur des 'Archivs‘ wurde Lederer zum Chronisten der sozialen Bewegungen und Auseinandersetzungen in Deutschland und Österreich. Er beschäftigte sich in seinen von 1910 bis 1920 erschienenen Jahresrückblicken und auch später immer wieder mit der Veränderung der sozialen Schichtung in Deutschland und dabei vor allem mit den Mittelschichten. Als am Marxismus geschulter und im Bannkreis Max Webers lebender Soziologe versuchte er eine Synthese beider Theoretiker, die in vielen soziologischen Grundannahmen eng verwandt sind, indem er die Untersuchung der ökonomischen Entwicklungen, der Herrschaftsverhältnisse und der sozialen Ungleichheiten verknüpfte. Er wich in seinen Gesellschaftsanalysen vom dichotomischen Modell der zwei antagonistischen Klassen ab und sah in den Mittelschichten ein wachsendes, im traditionellen Parteiensystem nicht eingebundenes und auch sozial „entstrukturiertes“ politisches Potential. Daß im Verlaufe des Modernisierungsprozesses eine zunehmende Zahl von Menschen zu den Mittelschichten gehört beziehungsweise sich zu ihnen zählt, sah Lederer als Symptom für die Auflösung der objektiven Klassenstrukturen und subjektiven Klassenbindungen und zugleich als Entstehungsursache für die europäischen Faschismen, die ihrerseits diese Entstrukturierungstendenzen beschleunigten. (Wie aktuell diese Analysen sind, zeigt eine neue Studie des Berliner Politologen Stöß über das Wählerpotential der „Republikaner“, das er als modernisierungsgeschädigt beschreibt.)

Nicht zuletzt interessierten Lederer Veränderungen in der Mentalität der sozialen Schichten, für die er den - heute durch Bourdieu modisch gewordenen - Ausdruck „(sozialpsychologischer) Habitus“ verwandte. Beeindruckend sind in diesem Zusammenhang zwei frühe Aufsätze: Die Gesellschaft der Unselbständigen (1913) und mehr noch Zur Soziologie des Weltkrieges (1915). Lederer analysierte hier in bis heute unübertroffener Klarheit die Folgen des modernen Krieges für die Gesellschaft und die nationalistische Massenhysterie seiner Zeit.

Lederer war ein durch und durch politisch denkender und engagierter Professor. Zeitlebens hatte er enge Kontakte zu führenden Politikern - vor allem der SPD - und Gewerkschaftlern, insbesondere in der sozialistischen Angestelltengewerkschaft Afa-Bund. Scharf kritisierte Lerderer Max Webers entpolitisierenden Wissenschaftsbegriff. Er bezeichnete es als „nihilistisch“, wenn Weber jeglich Form ideengeleiteten politischen Handelns und Gestaltens als „literatenhaft“ ablehnte und zählte 1939 die „Schwäche der Wissenschaft“ gar zu den „Aufstiegsbedingungen“ des Nationalsozialismus. Damit war Webers Wertfreiheitspostulat gemeint, das „für eine scharfe Unterscheidung zwischen der Ermittlung von Tatsachen und dem Ziehen von (politischen) Schlußfolgerungen“ plädierte. Dies habe „zum völligen Rückzug verantwortungsbewußter Wissenschaftler aus dem politischen leben“ geführt: „Die Wissenschaftler gingen sogar soweit, die Verteidigung ihres eigenen Wertes abzulehnen, und bewahrten nobel und uninteressiert ihre 'Objektivität‘ selbst dann, wenn Feuerbrände an ihre Elfenbeintürme gelegt werden sollten.“

War Lederer sein ganzes Leben schulend und beratend politisch tätig, so engagierte er sich in zwei entscheidenden Phasen der Weimarer Republik weitgehend: 1918 trat er in die USPD ein, saß für sie in der Kommission, die Vorschläge für Sozialisierungen in Deutschland und Österreich ausarbeitete, und schrieb Leitartikel für das Parteiorgan 'Die Freiheit‘. 1930 und '31 versuchte er ohne Erfolg, durch rege Rednertätigkeit und zahlreiche Publikationen die Regierung zu stärkerem finanziellen Engagement gegen die Arbeitslosigkeit zu bewegen, die er als existenzbedrohend für die deutsche Demokratie ansah. Im Sinne modernen keynesianischen Krisenmanagements plädierte er für „deficit spending“, mehr Staatsverschuldung, um die Konjunktur anzukurbeln, und gegen das „Allheilmittel der Lohnsenkung“, da eine weitere Verringerung der Massenkaufkraft die Krise nur verschärfe. Obwohl Lederer nach der Spaltung der USPD und der Wiedervereinigung ihres freiheitlichen Flügels mit der SPD deren Mitglied blieb, charakterisiert ihn eine starke Distanz zu politischen Parteien. Nur die Artikulation gruppenspezifischer und das heiße in aller Regel ökonomischer Interessen schaffe die Voraussetzungen für wirkliche politische Partizipation der Massen, während die Ideologisierung der Politik, wie sie die meisten Parteien betrieben, nur Scheinkonflikte schaffe.

Daß Lederer sich so positiv von der großen Mehrheit seiner Kollegen (auch der Demokraten und Anti-nazisten) abhebt, hängt wohl mit einem Umstand zusammen, auf den drei seiner Kollegen von der „New School“ in ihrem Nachruf verwiesen: „Im Gegensatz zu Simmel und Max Weber stand hinter Lederers Schatten in keiner Weise die Erfahrung von Isolation und Einsamkeit.“ Lederers wissenschaftliches Werk ist im Gegensatz zu dem dieser beiden neurotischen Heroen, deren Werkausgaben gerade erscheinen, weitgehend vergessen. Niemand registrierte in der jubiläenfixierten deutschen Öffentlichkeit seinen 50.Todestag im Mai dieses Jahres. Aus seinem weit über 400 Titel umfassenden Oeuvre gäbe es für engagierte Verlage einiges wiederzuentdecken und neuaufzulegen. Ich denke insbesondere an sein nie auf Deutsch erschienenes Spätwerk mit dem doppelsinnigen Titel State of the Masses. The Threat of the classless Society (New York 1940, Reprint 1967), in dem Lederer sowohl den politisch-ideologischen Zustand der Massen als auch die faschistisch-totalitären Massenstaaten analysiert, und an seine nur in Japan publizierte Abrechung mit Max Weber Zum Methodenstreit in der Soziologie (Tokio 1925). Aber das deutsche Publikum liebt tragische Geistesheroen mehr als pragmatische, mit Ironie und Distanz ausgestattete Köpfe.

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