Quadratur des artifiziellen Fußballs

Spätheimkehrer Diego Maradona wieder mager und meisterlich beim 1:1 von Neapel in Cremona  ■  Aus Monza Matti Lieske

Eigentlich ein stinknormales Spiel der italienischen Liga. Der Tabellenführer aus Neapel tritt beim Vorletzten aus Cremona an, noch dazu in einem neutralen Stadion, weil der Platz von Cremonese wegen einiger Zwischenfälle beim Heimspiel gegen Genua für eine Partie gesperrt wurde. Wahrlich kein Spitzenknüller - wäre da nicht dieser kleine quadratische Mann, der zum ersten Mal in dieser Saison in sein geliebtes Trikot mit der Nummer 10 schlüpfen darf: Diego Armando Maradona, der einzige, der das künstlerische Element im Fußball in vollendeter Art und Weise begriffen hat, jener Hohepriester artifizieller Fußarbeit, der den Ball nur dann, wenn es gar nicht anders geht, nicht mit der Hacke spielt.

Noch vor zwei Wochen hätte niemand für möglich gehalten, daß er so schnell von seiner Urlaubsüberdehnung genesen würde, am allerwenigsten die italienische Sportpresse, die ihm eigentlich einen Sonderpreis als Sommerlochfüller des Jahrzehnts verleihen müßte. Während seiner eigenmächtigen Ferienverlängerung im heimatlichen Argentinien hatte ihr Maradona die ganze Palette modernen Fußballtheaters geliefert: Melodramen, Komödien, Schurkenstücke und Trauerspiele. Eine ganze Kohorte von Korrespondenten hatte sich an seine Fersen geheftet, um akribisch zu registirieren, welche Art von Fischen und wieviele er beim Angeln erbeutete, um zu ergünden, was ihm seine Mama des Abends an Köstlichkeiten auftischte, hatte mitgefiebert, als der Wunderknabe seine millionenschweren Beinchen beim Skilauf in den Anden aufs Spiel setzte, und herausgefunden, was der erschöpfte Fußballheros sonst tat: schlafen, schlafen, schlafen.

Ebenso spektakulär die oftmals verschobene Rückkehr des verlorenen Sohnes: das rührende Versöhnungsgespräch mit Vereinspräsident Ferlaino, die Huldigung an Neapel, das er nun „noch mehr“ liebe, der Kampf mit den Kilos anhand eines strengen Diätplanes und die Liebe auf den ersten Blick zwischen dem Fußballer und seinem neuen Trainer. Maradona: „Bigon ist wie ein Vater.“ Bigon: „Ich bin für Maradona wie ein großer Bruder.“

Und schließlich die Renaissance auf dem Spielfeld, mißtrauisch beäugt von der Presse, die vorher noch respektlos höhnte: „Er ist fett, aber er will spielen.“ Zwanzig Minuten lang tapste Maradona im Europapokalspiel bei Sporting Lissabon, verlacht vom portugiesischen Publikum, etwas unbeholfen dem Ball nach, servierte aber seinem Kollegen Careca dennoch die beste Chance des ganzen Spieles. Der Brasilianer vergab, es blieb beim 0:0, und am nächsten Tag gab es im neapolitanischen Lotto eine verdächtige Häufung der Zahlen 9, 14 und 16. Der 14.9., Tag der Rückkehr Maradonas ins Neapel-Team, 16 seine Rückennummer.

Dann der erste Auftritt in Neapels San Paolo-Stadion. 2:0 führte Florenz in der Halbzeit durch Tore des neuen italienischen Superstars Roberto Baggio, dann kam Maradona und verschoß mit seiner ersten Ballberührung einen Elfmeter. Entsetzen bei Neapels Fans, doch es geschah Unerwartetes: Maradona kämpfte inbrünstig, schuf Ordnung im Mittelfeld und servierte dem anstürmenden Corradini drei Minuten vor Schluß eine wunderbare Flanke, die dieser zum 3:2 für Napoli ins Netz köpfte. Ob da San Gennaro mal wieder seine Hand im Spiel gehabt habe, wurde Neapels Libero Renica gefragt: „Oh nein“, das sei Diego gewesen, und ein „insgesamt großartiges Team“.

Damit hatte sich Maradona die Nummer 10 redlich verdient, und in Monza trug er sie stolz wie ein Pfau auf das Spielfeld. Gegen die Cremoneser, die in fünf Spielen erst einen Punkt ergattert hatten, lieferte er, schon sichtlich abgemagert, über 90 Minuten eine hervorragende Partie. Gewohnt perfekt seine Ballkontrolle und seine Pässe, überraschend sein Laufpensum. Einmal tauchte er sogar zum allseitigen Erstaunen am eigenen Strafraum auf und klärte völlig unbehelligt per Rückzieher.

Seine wiedererworbene Kapitänswürde nahm Maradona ebenfalls sehr ernst, debattierte mit dem Schiedsrichter, schlichtete aufkeimende Aggressivitäten, kümmerte sich rührend um niedergestreckte Kontrahenten, denen er bei dieser Gelegenheit ungeniert ihre Wasserflaschen leertrank, umarmte nach dem Schlußpfiff alle erreichbaren Gegner sowie den Mann in schwarz und tauschte das Trikot mit seinem Landsmann Dezotti, jenem Stürmer, der in der 45. Minute nach einer der vielen Unachtsamkeiten in Neapels Abwehr das 1:0 für Cremona erzielt hatte.

Nach diesem unerwarteten Tor wurden die Angriffe der bis dahin erschreckend harmlosen Quasi-Gastgeber gefährlicher und für Napoli sah es nicht gut aus. Doch da nahm, nachdem der indisponierte Carnevale und der etwas lethargisch wirkende Careca seine besten Anspiele versiebt hatten, der Meister selbst die Sache in die Hand. In der 75. Minute hechtete Maradona akrobatisch in eine Kopfballvorlage von Ferrara, wuchtete das Leder mit dem Kopf ins Netz und rettete seinem Team so einen wichtigen Punkt.

Zu mehr reichte es nicht. In Monza hätte es dazu wohl schon der Hilfe San Gennaros bedurft. Aber der war diesmal beleidigt in seinem neapolitanischen Schmollwinkel geblieben. Heilige sind eben äußerst sensible Leute, Signore Renica.