Gorbatschow droht zerstrittenen Republiken

Auseinandersetzungen zwischen Armeniern und Aserbaidschanern spitzen sich zu / Oberster Sowjet diskutiert Dringlichkeitsgesetzentwürfe über die wirtschaftliche Lage und Entschärfung sozialer Spannungen / Veränderte Nationalitätenplattform  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

In seiner Rede zur Eröffnung der Herbstsitzungsperiode des Obersten Sowjets hat Michail Gorbatschow am Montag Notmaßnahmen zur Beendigung der Blockade Armeniens durch Aserbaidschan gefordert. Die armenische Versorgung wird seit Wochen von aserbaidschanischen Nationalisten blockiert, die damit ihrer Forderung nach Souveränität über das autonome Gebiet Nagorny-Karabach Nachdruck verleihen wollen. Die mehrheitlich von Armeniern bewohnte Enklave wird wegen der Streitigkeiten seit Januar direkt von Moskau verwaltet.

Das aserbaidschanische Parlament hatte am Sonntag eine Resolution verabschiedet, in der es erneut die Herrschaft über das Gebiet beansprucht. Das Parlament wird sich in dieser Legislaturperiode mit dem Haushalt für das nächste Jahr und mit weitreichenden wirtschaftlichen Reformen befassen. Geplant ist die Entscheidung über „Dringlichkeitsgesetzentwürfe, um die Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation aufzuhalten, erste Schritte zur Verbesserung der finanziellen Lage des Landes einzuleiten und soziale Spannungen zu entschärfen“.

Die Plattform „Die nationale Politik der Partei unter den heutigen Bedingungen“, an der das Zentralkomitee in der vorigen Woche herumgebastelt hat, prangte am Sonntag auf der ersten und zweiten 'Pravda'-Seite. Im Vergleich zum ursprünglichen Entwurf hat das Dokument noch an Umfang gewonnen. Verlorengegangen sind dabei allerdings einige ursprünglich vorgesehene Zugeständnisse an die 15 Unionsrepubliken, die den Konservativen in dem vielköpfigen Gremium wohl zu weit gingen. Auch der Satz: „Die verknöcherten Formen unseres nationalstaatlichen Aufbaus erlauben es nicht, neuen Bedürfnissen in dieser wichtigen Sphäre des gesellschaftlichen Lebens Rechnung zu tragen und neue Lösungsmöglichkeiten anzuwenden“, fiel der Schere zum Opfer.

Es blieb das historische Eingeständnis: „Die in der Konstitution von 1924 festgelegten Kompetenzabgrenzungen zwischen der Union und den Republiken wurden verwischt, ihre Souveränität war rein formaler Art.“ Um eine neue Abgrenzung geht es hier also, ja sogar um einen neuen „Unionsvertrag“, der in fernerer Zukunft zwischen dem Zentrum und den Einzelrepubliken geschlossen werden soll. Zunehmend Ärger hat in den Sowjetrepubliken, der Passus der neuen Sowjetverfassung erregt, daß das Unionsrecht automatisch das Recht der einzelnen Republiken bricht. Formulierte der Entwurf die Rechte der einzelnen Republiken noch offensiv, liest es sich in der Neufassung abgeschwächt: „Wenn ein Unionsgesetz über die Vollmachten der Union hinausgeht, kann die Republik seine Abschaffung fordern, ebenso sind Republikgesetze zu annullieren, die über den Kompetenzbereich einer Republik hinausgehen oder dem Gesetz der UdSSR widersprechen.“ Hier ist wohlgemerkt von Gesetz die Rede, und nicht nur von der Konstitution. Eine Föderalisierung der Partei auf Nationalitätenbasis wird strikt zurückgewiesen, auch hier stärker als im Entwurf: „Die Idee des Föderalismus im Aufbau der KPdSU ist prinzipiell unannehmbar.“

Neu dazugekommen ist eine Forderung, die Anhänger der Volksfrontbewegungen vor den Kopf stoßen muß: Russisch soll per Gesetz zur Staatssprache erhoben werden, die neben der jeweiligen Landessprache gleichberechtigt geduldet werden muß. Die gesetzliche Verankerung von Staatssprachen und einer eigenen Staatsbürgerschaft, die manche Republiken schon proklamiert haben, wird in dem Dokument ausdrücklich vorgesehen. Im Zusammenhang damit wird auch das Recht der Republiken bekräftigt, konsularische Beziehungen mit ausländischen Staaten zu unterhalten.

Weitgehendste Zugeständnisse sieht der Entwurf auf wirtschaftlichem Gebiet vor. Auch hier sollen die Republiken frei wählen können, wieweit sie ausländische Allianzen eingehen und welche Formen des Eigentums und Wirtschaftens sie bevorzugen. Das Eigentum an natürlichen Ressourcen soll neu katalogisiert werden, wobei die Interessen der Union und der Einzelrepublik gleichermaßen zu berücksichtigen sind gewiß kein einfacher Prozeß.

Den kleinen und kleinsten Völkern der Union soll in Zukunft mehr Gerechtigkeit widerfahren, indem die Rechte der „Autonomen Republiken“, und „Autonomen Gebiete“ gestärkt und ihre Abhängigkeit von der Unionsrepublik, in der sie sich jeweils befinden, gelockert wird. Außerdem sieht der Entwurf vor, „die Frage zu prüfen, wieweit es möglich und durchführbar ist, 'Autonome Gebiete‘, falls dies der Wille ihrer Bevölkerung ist, direkt den Machtorganen und der Verwaltung der Russischen Föderation zu unterstellen“. Ein deutlicher Wink mit dem Zaunpfahl in Richtung Berg-Karabach, dessen Problem in dieser Resolution überhaupt nicht zur Sprache kommt. Auch die Nationalitätenprobleme in Mittelasien werden nicht berührt, wenn man einmal davon absieht, daß den dort lebenden von Stalin vertriebenen Völkern wie Deutschen, Krimtataren und Meschketen eine „politische Rehabilitation“ in Aussicht gestellt wird. Mit der Absicht, neue nationale Siedlungsgebiete zu schaffen, würde man politisches Neuland betreten. Wie alle Vorschläge der Plattform wird auch dieser Gegenstand heißer Debatten im Obersten Sowjet sein.