„Die Pille“ im Berliner Grundwasser

■ Unter der Konzernzentrale des Chemieriesen Schering im Wedding ist das Gelände massiv verseucht

Wie eine Bombe hat beim Berliner Scheringkonzern - und nicht nur dort - der Bericht der 'Wirtschaftswoche‘ über die Verseuchung von Boden und Wasser auf dem Gelände des Pillenherstellers eingeschlagen. „Die sind im Dreieck gesprungen“, berichtet ein Insider über die Aufregung bei Schering. Nach außen hin allerdings gibt man sich gelassen: Man habe den (alten CDU-FDP-)Senat ja schon vor drei Jahren vollständig informiert. Doch der verbrachte die Zeit bis zu seiner Abwahl offenbar vor allem mit Prüfen - ohne die Öffentlichkeit zu informieren. Und die seit März amtierende Umweltsenatorin Michaele Schreyer sagt im taz-Interview, sie habe selbst erst Anfang August von der Verseuchung erfahren. Auch sie ging aber dann nicht selbst an die Öffentlichkeit, sondern forderte erst einmal den Konzern auf, ein Sanierungskonzept vorzulegen. Nachdem nun von der AL der Skandal zum „Testfall für Rot-Grün“ ernannt wurde, beobachtet die Stadt gespannt die weitere Reaktion des Senats.

Männliche Hormone im Grundwasser - das macht Berlin hart. Steroide sind bisher identifiziert worden, Androsteron und Metaboliten, alles aus dem Schering-Werk, Berlins größtem Pharma- und Chemiekonzern. Eine Verseuchung im Grundwasser wurde festgestellt, sagt der Berliner Umweltsenat jetzt, „die in ihrem Gefährdungspotential bislang ohne Beispiel ist“. Bohrungen und Analysen, die im Auftrag der Senatsverwaltung in Auftrag gegeben wurden, ergaben, „daß das Grundwasser unter den Schering-Anlagen bis in über 40 Meter Tiefe mit giftigen, zum Teil krebserregenden Stoffen verunreinigt ist“.

Besorgniserregend sei insbesondere die Vielzahl der Stoffe. Eine Übersichtsanalyse ergab, „daß eine Mischung aus Kohlenwasserstoffen unterschiedlichster Art, Phenolen, Säuren, Alkoholen, Furane, chlororganische Verbindungen und eine noch nicht bekannte Anzahl anderer Stoffe“ vorliegt. Die Konzentration der flüchtigen organischen Verbindungen liegt nach Angaben des Senats bei bis zu 100.000 Mikrogramm pro Liter Wasser - bei einem zulässigen Grenzwert nach der Trinkwasserverordnung von 25 Mikrogramm. Welche Auswirkungen dieses Giftgemisch haben wird und ob die angrenzenden Straßenbrunnen beeinträchtigt sind, ist noch nicht untersucht worden. Gestern allerdings wurde damit angefangen - nachdem die Verseuchung seit 1986 bekannt ist.

Erste Hinweise auf die Kontamination des Grundwassers hatten sich im Juli 1986 ergeben, als bei unterirdischen Tanks Lecks festgestellt wurden. Bereits eineinhalb Jahre später, im Dezember 1987, gab der damalige CDU/FDP-Senat ein Gutachten in Auftrag, das den Verdacht der Grundwasserverunreinigung bestätigte.

Schering selbst gibt die Grundwasserverseuchung durchaus zu. „Wir haben das nie bestritten und sind von uns aus schon 1986 voll mit allen Daten rausgekommen.“ 1,4 Millionen Liter wurden damals am Tankschaden direkt destilliert, der gesamte Boden sei ausgetauscht worden, erklärt Schering-Sprecher Gert Wlasich. Auf die Frage, ob ein weiterer Gifteintrag in das Grundwasser stattfindet, hat er eine eher historische Antwort: Schon 1834 sei die Gegend in der Fennstraße von der königlich-preußischen Verwaltung als Industriegelände ausgewiesen worden wegen des fauligen und schwefelwasserstoffhaltigen Bodens.

„Jungfräulich war der Boden schon nicht, als wir hierherkamen.“ Borsig sei dort angesiedelt worden und habe all seinen Dreck in den Boden abgelassen, auch ein Gaswerk und schließlich die Großtankstelle Rhenania, die im Krieg zerbombt wurde. Für die Verseuchung mit männlichen Sexualhormonen hat Gert Wlasich eine auf der Hand liegende Erklärung: Es sei ein Hundertstel oder Tausendstel dessen an männlichen Geschlechtshormonen gefunden worden, was sich in jedem beliebigen Männerurin befände. Schließlich arbeiten bei Schering Tausende von Männern. Wenn die über Jahre ihr Wasser irgendwo zwischen den Fabrikanlagen abschlagen, ließe sich damit alles erklären. Und: Gegenüber allen anderen Belastungen seien diese Hormone ein absolutes „Nullproblem“, sie bauten sich alleine ab.

Während Schering meint, das Problem in Griff kriegen zu können, sieht Thomas Schwilling, der persönliche Referent von Klaus-Martin Groth, dem Staatssekretär beim Berliner Umweltsenat, ganz andere Ausmaße: „Nicht allein Tankundichtigkeiten sind die Verursacher, sondern ganzflächig der ganze Schering-Betrieb.“ Es scheint, als ließe sich das Männer-Hormon-Problem ganz einfach durch die Einrichtung sanitärer Anlagen auf dem Werksgelände lösen.

Schering vermutet, daß der Stein, der den Skandal jetzt ins Rollen brachte, nämlich ein Artikel in der 'Wirtschaftswoche‘ am letzten Freitag, von Teilen der Alternativen Liste lanciert sei, die der Umweltsenatorin Schreyer am Zeug flicken wollten. Gerd Köppl, einer der Väter des rot-grünen Senats, warf dagegen der Leitung des Weltkonzerns vor, „fahrlässig die Gesundheit der Berliner“ aufs Spiel zu setzen und „noch keinen ökologischen Bewußtseinswandel“ vollzogen zu haben. Vor allem aber macht Köppl das Schering-Gift zum Testfall für Rot-Grün, an dem sich zeigen werde, „ob der Wille zum ökologischen Stadtumbau auch gegen den Willen eines Weltkonzerns durchgesetzt werden kann“.

Unausgesprochen verbindet sich damit der Vorwurf, daß auch der rot-grüne Senat von Anfang an über die Vergiftung des Grundwassers informiert war, aber weder entscheidend gehandelt habe noch an die Öffentlichkeit gegangen sei.

Die SPD schiebt die Hauptverantwortung dem alten CDU/FDP -Senat zu. Wolfgang Behrendt, umweltpolitischer Sprecher der SPD, wirft den Vergängern ein „Komplott des Schweigens“ vor und verlangte „sofortige Maßnahmen gegen die chemische Grundwasserbombe bei Schering“. Es sei ein beispielloser Vorgang, daß dem Chemiekonzern bereits seit 1986 erste Erkenntnisse über die großflächige Verseuchung vorlagen und er es bis heute nicht für nötig befunden habe, die Öffentlichkeit zu informieren, obwohl es sich zum Teil um krebserregende Stoffe handele.

Nachdem der alte Senat ein Gutachten über die Ausmaße des Skandals geheimgehalten und allein der Firma die weitere Untersuchung überlassen habe, müsse die Verschleierung jetzt ein Ende haben.

Wieland Giebel