Größte DDR-Demonstration seit 1953

Tausende protestierten in Leipzig / Zulassung des Neuen Forums gefordert / „Absolut deeskalierendes Verhalten der Polizei“ / Ausreisewillige erstmals in der Minderheit / DDR-Innenministerium verlangt „unverzügliche Einstellung der Aktivitäten“ des Neuen Forums  ■  Von Knud Rasmussen

Berlin (taz) - Zur größten Demonstration in der DDR seit dem 17. Juni 1953 wurde am Montag abend der Marsch durch die Leipziger Innenstadt: Mehrere tausend Menschen schätzungsweise zwischen 5- und 8.000 Personen - beteiligten sich nach dem tradiditonellen Friedensgebet in der Nikolaikirche an der spontanen Manifestation für politische Reformen und die Legalisierung des Neuen Forums.

Erstmals waren die Ausreisewilligen bei einer Demonstration in Leipzig „eine verschwindende Minderheit“, erklärte Pfarrer Christoph Wonneberger. Anders als in den vergangenen Wochen verhielt sich die Polizei „absolut deeskalierend“. Es wurden nur „wenige“ vorläufige Festnahmen bekannt. Für das Neue Forum kündigte dessen Mitbegründer, der DDR-Jurist Henrich, in einem taz-Interview an, die Gruppe werde jetzt darauf verzichten, auf dem Rechtsweg die Legalisierung durchzusetzen.

Bereits wenige Minuten nach Beginn des Gottesdienstes verschloß der Küster die Türen der Nikolaikirche - wegen Überfüllung. Etwa 3.000 Menschen hatten sich hineingezwängt, auf dem Kirchplatz warteten weitere 1.500 Leute. Pfarrer Wonneberger und der Arbeitskreis Menschenrechte gestalteten die Andacht zum Thema Gewaltlosigkeit. Wonneberger warnte davor, daß sich die bei vielen DDR-Bürgern angestaute Wut und Enttäuschung leicht „in gewaltsamen Auseinandersetzungen“ Luft machen könne. Ausdrücklich verlangten die Redner die Freilassung der neunzehn seit nunmehr zwei Wochen Inhaftierten, gegen die die Behörden wegen „Zusammenrottung“ - so der DDR-Begriff für gewaltfreie Demonstrationen - noch ermitteln. Für sie organisieren Leipziger Bürgerrechtsgruppen seither tägliche Protestveranstaltungen in verschiedenen Kirchen.

Diesmal verließ die Menge nach dem Friedensgebet nicht wie in den vergangenen Wochen gleich den Kirchplatz, sondern bildete einen Demonstrationszug. Auf dem Weg über den Innenstadtring zum Bahnhof schlossen sich immer mehr Menschen an. Häufig riefen sie „Neues Forum“ und verlangten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“. Unter den Gesängen der Internationale und des Lieds We shall overcome bewegte sich der Zug durch die City. Bemerkenswerterweise konzentrierte sich die Volkspolizei auf den zusammengebrochenen Autoverkehr.

Waren Vopos und Stasi überrumpelt, gelähmt, zersetzt, oder handelten sie gar auf Anweisung des am Montag wieder seines Amtes waltenden und kurzfristig erleuchteten Erich Honecker? Fragen, die gestern niemand beantworten konnte. Eine Intervention aus Ost-Berlin Fortsetzung auf Seite 2

Henrich-Interview auf Seite 2

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schließen Insider wegen der bevorstehenden 40-Jahrfeier der DDR nicht aus. Als die DemonstrantInnen den Bahnhof erreichten, ereigneten sich weitere ungewöhnliche Szenen. An die montäglichen Parolen „Freie Fahrt nach Gießen“ und „Wir wollen raus“ gewöhnt, trauten die Trapos (DDR-Jargon für Transportpolizisten der Reichsbahn) ihren Augen und Ohren nicht: „Wir bleiben hier“, schallte es ihnen von draußen entgegen. Zunächst zogen die DemonstrantInnen weiter zum Friedrich-Engels-Platz. Von dort ging es wieder zurück zum Hauptbahnhof. Der Ohnmacht offenbar ziemlich nah, mußten die Trapos mit ansehen, wie mehrere hundert Protestler die Absperrungen überwanden und in das Bahnhofsgebäude eindrangen. Dabei soll einigen Trapos das kostbare Symbol ihrer Macht, eine blaue Mütze, vom Kopf gerissen worden sein. Die Neubesitzer ließen sich für kurze Zeit zu einem Sit-in auf den Stufen der Eingangshalle nieder, ohne daß die Polizei massiv einschritt. Allerdings nahm sie in der Umgebung des Bahnhofs einige Leute vorläufig fest. Nach Informationen der taz dürfte es sich um ein knappes Dutzend handeln - an den beiden letzten Montagen waren es jeweils weit über hundert.

Unterdessen kündigte die Gruppe Neues Forum an, der Aufforderung des DDR-Innenministeriums, ihre Aktivitäten einzustellen, mitnichten Folge zu leisten. Die Behörde hatte am Montag zwei Initiatorinnen mitgeteilt, es gebe „keinen gesellschaftlichen Bedarf“ für das Neue Forum. Das wies Henrich unter Hinweis auf nunmehr 5.000 Unter

schriften und die Leipziger Demo zurück. „Die Entwicklung beweist, wie wichtig der von uns geforderte Dialog ist. Dazu gibt es nur noch die Alternative der Gewalt. Soweit darf es nicht kommen“.