Urbaner Raum, verlassene Orte und ein ästhetischer Reiz

■ „Experiment Raum“ kommt mit Vorliebe GROß raus / taz-Gespräch mit dem ExR-Bildhauer Gunther Gerlach

Das Brückenprojekt: Kunst unter der Betonarchitektur der Stelzenstraßen zwischen Walle und Innenstadt, in verborgenen und anrüchigen Winkeln dieser Stadt. Künstler aus Frankreich, Jugoslawien, der DDR, Kanada, den Niederlanden und dem Inland beschäftigten sich einige Wochen lang mit diesem Ort und machten ihn zum Gegenstand einer künstlerischen Auseinandersetzung. Initiator der Aktion: die Hemelinger Gruppe ExR, mit deren Mitglied Gunther Gerlach die taz sprach.

taz: Was ist ExR?

Gunther Gerlach: „Experiment Raum“ gibt es seit vier Jahren. Wir haben zusammen eine alte

Eisengießerei in Hemelingen. Wir sind zu dritt: Uwe Süchting und Eberhard Syring sind Architekten, und ich bin Bildhauer. Wir wollen Architektur und Skulptur zusammenbringen, und da bietet sich der öffentliche Raum natürlich an. Unser nächstes Projekt z.B. ist in Osterholz, da bauen wir in Kürze ein Objekt auf aus einem alten Baukran, der an einem Hochhaus lehnt, woran eine ganze Menge Gerüstrohre appliziert werden. Das ist eine wuchernde Struktur, die sich an dem Haus hocharbeitet, es in der Höhe von 30 Metern durchdringt und an der Oberkante wieder heraustritt.

taz: Auf der Dokumenta in Kassel habt Ihr mit 300 Leitern ge

arbeitet. Eure Projekte sind gigantisch. Sowas erfordert Organisation, Geld, Kontakte. Mit 300 Leitern nach Kassel

G.G.: Einmal können wir als Gruppe Projekte machen, die man allein nicht schafft. Wie 300 Leitern oder hundert Eisenrohre in den Raum stellen. Weiter ist der Uwe Hochschullehrer im Bereich Architektur und kennt sich mit dem planerischen Bereich aus. Und Eberhard hat schon vorher größere Projekte im Zusammenhang mit dem Senator für Wissenschaft und Kunst gemacht. Wie an der Schule Drebberstraße, wo mit den Schülern zusammen eine Ruinenarchi

tektur aufgebaut wurde. Ich selber habe in Bremen ein paar größere Objekte stehen: den gespaltenen Baumstamm auf der Weserbrücke gegenüber der Weserburg oder die großen Holzklötze am Fedelhören. Das waren auch schon ABM-Projekte, „Kunst im öffentlichen Raum“. In Bremen war das ja jahrelang dogmatisch festgelegt auf Wandmalereien mit „realistischem“ Inhalt.

taz: Ihr sucht Euch, wie jetzt beim Brückenprojekt, eher unübliche Plätze für Eure Kunst aus.

G.G.: Wir wollen solche Räume wie unter den Brücken entdecken, öffentlich machen. Diese Brücken zerschneiden Bremen, da könnte es auch Impulse geben für die Stadtplanung. Irgendwo haben solche Orte natürlich auch ästhetische Reize; die Brücken sind eigentlich die Kathedralen der Neuzeit.

taz: Wie seid Ihr auf das international besetzte Brückenprojekt gekommen? Der Reiz verlassener Orte

G.G.: Uns haben schon lange verlassen Orte gereizt, uns ästhetisch damit auseinanderzusetzen. Die Mächtigkeit des Raumes unter den Brücken war für uns allein zu groß, wir haben also befreundete Künstler angeschrieben, überwiegend Gruppen, die sich unter ähnlicher Thematik zusammengefunden haben. Die Gruppe „Meier“ aus Dresden hat dort in einer alten Moschee eine Installation gemacht. Die „Insertion“ aus Kanada haben wir in Kassel gesehen, wo sie alte Ölfässer zu einem Berg aufgeschichtet hatten.

taz: Was ist jetzt aus dem Raum unter den Brücken geworden?

G.G.: Putzigerweise ist z.B. bei dem blauen Tor von „Meier“ eine Art Treffpunkt entstanden für Jugendliche. Andererseits geht jetzt vielleicht doch der ein oder andere aufmerksamer durch diese Architekturlandschaft, nimmt den Raum bewußter wahr.

taz: Dekoration, Milieu schaffen oder politische Kritik habt Ihr eine schlüssige Formel für Euer Selbstverständnis?

G.G.: Im Brückenprojekt gibt es eine ziemliche Spannbreite; von ästhetischer Aufwertung bis zu der kritischen Arbeit der Kanadier. Auch unser Projekt in Osterholz stellt Architektur in Frage. Das Objekt haben wir in Hemelingen schon einmal zusammengebaut und demontiert und bauen es Ende Oktober an Ort und Stelle auf.

taz: Habt Ihr eigentlich mal mit den Bewohnern gesprochen?

G.G.: Ehrlich gesagt mit den Bewohnern nur vermittelt über die GeWoBa; das ist eher die Frage, wie geschickt politisch man vorgeht, daß man nicht als Künstler gleich zerfetzt wird, weil jedes Experiment zuerst auf starken

Widerspruch stößt. An den Künstlern wird oft kontrovers diskutiert, obwohl was anderes gemeint ist.

Die Liebe zum Abrißholz

taz: Eine Frage an den Bildhauer Gerlach: unter Bildhauern stelle ich mir Menschen vor, die ein liebevolles, libidinöses Verhältnis zu ihrem Material haben. Nun arbeitest Du mit rubbeligem Altholz und Abrißmaterial.

G.G.: Holz ist selbst in der Form von Abrißmaterial phantastisch, hat immer Geschichte an sich, ist lebendig. Das ist mir wichtig, daß das Material „beseelt“ ist.

taz: Ich stelle mir vor, daß Du in Hemelingen ein riesiges Holzlager hast.

G.G.: Stimmt! Es sind häufig Stämme, die in der Stadt abgesägt wurden. Die Klotz-Skulptur am Fedelhören stammt aus dem Holz einer 270-jährigen Blutbuche, die am Kippenberg -Gymnasium gefällt wurde. Das ist vielleicht der Versuch, die Dinge auf künstlerische Weise wiederauferstehen zu lassen.

Fragen: Burkhard Straßmann