Idealfall und Realität

■ Das System der Sozialstationen krankt an finanzieller Mangelversorgung und Personalfluktuation / 1990 soll ein neues Gesetz Abhilfe schaffen / Tarifverträge für Pflegekräfte

Bis zu diesem Sonntag im August sah für Else M. alles nach einem ruhigen Lebensabend aus. Mit ihren 74 Jahren konnte sie sich in ihrer kleinen Wohnung selbst versorgen, einkaufen, spazieren gehen und am Monatsende ihre Rente abholen. Damit waren die Kontakte zur Außenwelt zwar schon erschöpft, aber über die Einsamkeitsgefühle half zumindest das abendliche Fernsehprogramm hinweg. An diesem Sonntag im August passierte das, was statistisch gesehen, bei Menschen in ihrem Alter häufig passiert. Else M. erlitt einen Schlaganfall.

Die rechte Seite war gelähmt, nur mit Mühe gelang es ihr, ein paar undeutliche Worte auszustoßen, das Schlucken bereitete ihr Schwierigkeiten, jeder Atemzug war mühsam. Else M. wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo sie nicht nur mit ihrer Krankheit, sondern mit einer anderen Malaise zu kämpfen hatte: dem Pflegenotstand. Weil sie das Wasser nicht mehr halten konnte, erhielt sie einen Schlauch in die Blase. Niemand hatte die Zeit, sich um das eigentlich notwendige „Blasentraining“ zu kümmern. Eine permanent entzündete Blase war die Folge. Durch das ständige Liegen litt sie zusätzlich unter Druckgeschwüren, durch mangelnde Bewegung war sie bald völlig steif. Else M. war zu einem Pflegefall geworden ohne Aussicht auf Genesung. 7.000 sogenannte Chronikerbetten stehen in Berlin für solche Menschen bereit - und die Perspektive auf einen Tod unter unwürdigen Umständen.

Der Fall der Else M. ist fiktiv und doch tägliche Realität. Gut möglich, daß Else M. Glück hat und tatsächlich frühzeitig aus dem Krankenhaus nach Hause entlassen wird. Dann würde sich eine der rund 60 Berliner Sozialstationen ambulant um die alte Frau kümmern, sie im Idealfall rund um die Uhr pflegen. Ein Krankengymnast käme täglich, um mit ihr Bewegungsübungen zu machen. Doch die Schwestern der Sozialstation haben höchstens ein bis zwei Stunden am Tag Zeit für sie. Auch Sozialstationen kalkulieren nicht nach den Bedürfnissen ihrer PatientInnen, sondern nach den Pflegesätzen der Krankenkassen. Der liegt zur Zeit bei 38,75 Mark - allein der Gedanke an einen Krankengymnasten ist illusorisch. Vier Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus würde die Krankenkasse von Else M. die Zahlung ganz einstellen. Weil sie keine Sozialhilfe bekommt, müßte Else M. ihre Betreuung von nun an selbst bezahlen. Wenn sie dazu nicht in der Lage ist, wird sie nicht versorgt - und landet kränker als zuvor wieder im Krankenhaus.

Die Sozialstationen allein können diesen „Drehtüreffekt“ nicht auffangen. Zwar führt der Senat ständig die „Bedeutung der ambulanten Versorgung“ im Munde - doch getan hat sich bislang nicht allzu viel. Laut Auskunft der zuständigen Referatsleiterin in der Gesundheitsverwaltung, Christiansen, läuft zur Zeit in Schöneberg immerhin ein Modellprojekt: Eine - aus Landesmitteln finanzierte - Krankenschwester soll Kontakte mit den umliegenden Krankenkassen knüpfen, als Brücke zwischen Krankenhäusern und Sozialstationen dienen und, last not least, auch noch Kranke und deren Angehörige beraten.

Anette Schwarzenau (AL), Gesundheitsstadträtin in Charlottenburg, reicht das noch lange nicht aus. „Eine richtige Geriatriekette muß her.“ Gemeint ist eine abgestufte Gesundheitsversorgung. Demnach hätte Else M. nur wenige Tage auf einer Akutstation und die meiste Zeit in einer Rehabilitationsabteilung verbracht. Dort hätte sie gelernt, sich wieder selbst zu versorgen und wäre mit Unterstützung einer Sozialstation wieder nach Hause gegangen. Nur existiert eine solche Versorgungskette noch nicht einmal in Ansätzen. Folglich sind die Sozialstationen hoffnungslos überlastet. Die Folge: der Informationsfluß zwischen den Schwestern ist schleppend oder reißt ganz ab, Stationsgespräche finden nur noch selten statt, die Fluktuation ist hoch.

Die spezielle Aus- und Fortbildung für ambulantes Pflegepersonal ist dürftig. Aufgrund der Überlastung müssen pflegerische Aufgaben von Hauspflegekräften übernommen werden. Diese, meist Hausfrauen und StudentInnen, arbeiten für einen Pflegesatz von ganzen 22,50 Mark. Sie sind nicht ausgebildet und haben keine Verträge.

Das soll sich nach dem Gesetzentwurf „zur Förderung der ambulanten gesundheits- und sozialpflegerischen Dienste“ allerdings ändern. Noch arbeiten SPD und AL an dem Entwurf, der spätestens Mitte 1990 verabschiedet werden soll. Alternative Liste und Sozialdemokraten wollen sicherstellen, daß in Zukunft eine festgesetzte Anzahl von MitarbeiterInnen unter die Sozialversicherungspflicht fallen. Abgesehen vom geplanten Gesetz will die Gesundheits- und Sozialverwaltung bei den Verhandlungen mit den Wohlfahrtsverbänden Druck machen. „Die neuen Kostensätze, die wir abschließen“, sagt Staatssekretär Armin Tschoepe, „sind an die Zusicherung der Freien Wohlfahrtsverbände gebunden, für mindestens 80 Prozent der Beschäftigten reguläre Tarifverträge anzubieten.“ Vorgesehen ist auch eine Verpflichtung der Sozialstationen, in Einzelabrechnungen die Einnahmen und Ausgaben offenzulegen. Wenn die Krankenkasse für einen pflegebedürftigen oder alten Menschen nicht mehr zahlt, soll die Betreuung durch eine bezirkliche Vorschußkasse solange gewährleistet sein, bis eine andere Möglichkeit gefunden wird. Man will, so Tschoepe, „keine Belastungen für Patienten und alte Menschen aufkommen lassen“.

Wer allerdings über die häusliche Krankenpflege hinaus betreut wird, einfach, weil er alt und pflegebedürftig ist, muß auch in Zukunft in die eigene Tasche greifen. Weil sich das vermutlich die wenigsten leisten können, bleibt nur eins: der Weg zum Sozialamt. Bis das Amt entscheidet betreuen die Sozialstationen natürlich weiter - faktisch umsonst.

Martina Habersetzer/taz