Partei zwischen den Fronten

Der Versuch der lettischen Kommunisten, sich an die Spitze der Unabhängigkeitsbewegung zu stellen, ist gescheitert / Die „Interfront“ als nichtlettische Interessenorganisation vertritt zunehmend die Zielsetzung konservativer Kräfte in Moskau / Auch die Volksfront muß sich radikalisierender Tendenzen erwehren  ■  Von Ojars J. Rozitis

Ein warmer Sommerabend Ende Juli in der lettischen Hauptstadt Riga. Zusammen mit meiner Frau und den beiden Töchtern stehe ich am Ende einer Warteschlange für Taxis, als eine gutgekleidete, etwa 50 Jahre alte Frau uns in Russisch anspricht. Offensichtlich will sie wissen, ob wir die letzten in der Schlange sind. In Lettisch bittet meine Frau sie höflich, entweder Lettisch, Deutsch oder Englisch zu sprechen, denn wir verstehen nun wirklich kein Russisch. Aus der Frau bricht es daraufhin hervor: „Von wegen, Sie verstehen bestimmt Russisch, Sie wollen es bloß nicht sprechen, Sie stellen sich nur stur.“ Das Verblüffende an dieser Replik: Die Frau trägt sie in einem fehler-, wenn auch nicht akzentfreien Lettisch vor.

Keine Frage, es herrscht gespannte Sprachlosigkeit zwischen den verschiedenen Nationalitäten in Lettland. Bei einer Repräsentativumfrage, die unlängst vom Geschichtsinstitut am ZK der KP Lettlands durchgeführt wurde, gaben 54 Prozent der Letten und 82 Prozent der Nicht-Letten zu Protokoll, daß die zwischennationalen Beziehungen sich im Lauf der letzten Zeit verschlechtert hätten. 65 Prozent der Nicht-Letten führten dies darauf zurück, daß ihnen ihre persönlichen Lebensperspektiven nicht mehr gesichert erschienen, nur ganze 10 Prozent bekundeten, sie fühlten sich hinsichtlich ihrer eigenen Zukunft unbesorgt.

Einen Tag nach unserer Ankunft finden unsere Gastgeber ein in Russisch (!) abgefaßtes Flugblatt der Internationalen Front der Werktätigen der Lettischen SSR (Interfront) in ihrem Briefkasten vor: Am 20. Juli mögen sich alle diejenigen am Komjaunatnes-Ufer in Riga einfinden, die dafür eintreten, daß Lettland auch weiterhin eine Sowjetrepublik bleibt. Wenn auch die eifrigen Organisatoren der Kundgebung es versäumt haben, die Uhrzeit anzugeben, so ist das Datum hingegen wohlbedacht: Am 21. Juli 1941 hatte ein durch scheindemokratische Wahlen zustandegekommenes Parlament in Lettland die Sowjetmacht erklärt und beschlossen, um die Aufnahme der kleinen Ostseerepublik in die UdSSR zu bitten.

Man hatte mich schon vorher gewarnt, daß sich die Interfront von den meisten lettischsprachigen Medien mißverstanden fühlt und deshalb auf unbekannte oder ihr nicht genehme Berichterstatter mitunter recht allergisch reagiert, also lasse ich am Nachmittag des 20. Juli die Kamera zu Hause. Etwa 1.000 Menschen mögen erschienen sein (die russischsprachigen Abendnachrichten im Fernsehen sprechen von 3.000 bis 4.000).

Unter den aufgespannten Regenschirmen herrscht Teilnahmslosigkeit. Die angeblich um den Bestand der UdSSR besorgte Menge läßt sich selbst dann nicht aus ihrer Lethargie reißen, als aus den Lautsprechern scheppernd die Sowjet-Hymne tönt. Die durchweg russisch sprechenden Redner sind meilenweit kämpferischer als ihre Zuhörer.

Interfront

und konservative Interessen

Am Komjaunatnes-Ufer, wo die KP für gewöhnlich ihre Jubelparaden inszeniert, ist es am Nachmittag des 20. Juli kalt, naß und ungemütlich. Über der Veranstaltung lastet eine bleierne Gleichgültigkeit. Als ich an der Rückseite der Rednertribüne vorbeikomme, fahren dort zwei beigefarbene Ladas vor. Den Autos entsteigen zuerst Chauffeure, die Regenschirme aufspannen, unter denen sich dann zwei Herren postieren, Typ Unternehmensdirektor: korrekte Anzüge, glattrasierte Gesichter auch um 17 Uhr. Aus dem Hintergrund beobachten sie die Kundgebung, ihr Mienenspiel zeigt es an: Sie sind zufrieden.

Es ist kein Geheimnis, daß sich der Führungszirkel der Interfront aus dem mittleren und oberen Management der großen, oft der direkten Kontrolle der Moskauer Ministerien unterstellten Betriebe rekrutiert: ein Personenkreis, der im Falle einer ökonomischen und politischen Unabhängigkeit Lettlands nicht nur seine parapluiehaltenden Fahrer zu verlieren hätte. Die Masse ihrer 300.000 Mitglieder hat der Interfront aber der Beitritt des Rates der Arbeitskollektive der Lettischen SSR gebracht.

Einer Repräsentativumfrage zufolge identifizieren sich lediglich 17 Prozent der Nicht-Letten mit der Interfront, die damit knapp vor der KP Lettlands liegt (14 Prozent). Ganz anders der Rückhalt der Volksfront unter der lettischen Bevölkerung: Sie wird hier von 68 Prozent unterstützt, die KP muß sich weit abgeschlagen mit mageren 13 Prozent begnügen. Es will überdies so scheinen, daß diese Partei von keiner der beiden Gruppen so recht gebraucht wird.

Die Zahlen passen zu meinen Beobachtungen: Die Kundgebung der Interfront am 20. Juli in Riga wirkte deutlich an den Haaren herbeigezogen, die kämpferischen Reden standen im Kontrast zur Abwesenheit der vielbeschworenen werktätigen Massen. Die Interfront - ein Papiertiger? Ja und nein. Gleichgültigkeit hat auch etwas mit Manipulierbarkeit zu tun, sie kann einen Resonanzboden für schlimme Ressentiments abgeben.

Ihr eigentliches Gewicht gewinnt die Interfront als Waffe in der Hand konservativer politischer Kräfte. Noch zwei Zahlen geben zu denken: Unter den Mitgliedern der Volksfront gehören rund 20 Prozent der KP an; unter den Delegierten des Gründungskongresses der Interfront waren es 80 Prozent.

„Zu spät, zu spät“

Der Kontrast zur Veranstaltung der Interfront könnte nicht größer sein: Am frühen Abend des 26. Juli 1989 liegt warmer Sonnenschein über dem Domplatz in Riga. 7.000 bis 10.000 Menschen haben sich zu einer Kundgebung der Volksfront eingefunden, um den Obersten Sowjet der Republik aufzufordern, auf seiner Sitzung am 27. Juli eine Souveränitätserklärung nach estnischem und litauischem Muster zu verabschieden. In der vorab veröffentlichten Tagesordnung des Parlaments fehlt aber ein entsprechender Punkt.

Die Stimmung auf dem Domplatz ist energiegeladen, die mitgeführten Transparente reden eine deutliche Sprache: „Freiheit für Lettland!“, „Wir fordern die Verabschiedung der Souveränitätserklärung!“ Kein Wunder also, daß stürmischer Beifall losbricht, als der Vorsitzende der Volksfront Lettlands, Dainis Ivans, erklärt: „Der nächste logische Schritt im Umbauprozeß, bei der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für die Völker ist die Bildung selbständiger Staaten auf dem Gebiet der heutigen Sowjetunion.“

Für die eigentliche Sensation der Kundgebung sorgt allerdings Jazeps Barkans, der einzige Abgeordnete des Obersten Sowjet der Lettischen SSR. Der Absolvent der Sozialwissenschaftlichen Akademie der KPdSU gibt bekannt, daß vor einigen Stunden beschlossen worden sei, die Frage der Souveränität Lettlands auf die Tagesordnung des Parlaments zu setzen. Tosender Beifall der Menge. Als er erklärt, auch die KP Lettlands trete für die „politische, ökonomische und rechtliche Souveränität Lettlands“ ein, ertönen Pfiffe, der Ruf „zu spät!“ ist zu hören, das aufgeregte Wirrwarr der Stimmen verdichtet sich zum rhythmischen Sprechchor: „Loslösung, Loslösung, Loslösung!“

Diese Szene hat Schlüsselcharakter. Die Souveränitätsforderung, mit der die Menschenrechtsgruppe „Helsinki 86“ vor drei Jahren an die Öffentlichkeit trat, hat auf dem Umweg über die Intelligenzija und die Volksfront Lettlands schließlich die KP der Republik erreicht, die es sich nicht mehr leisten kann, sie von der Tagesordnung zu verbannen. Beunruhigt muß die Partei heute feststellen, daß ihr zunehmend Mitglieder verlorengehen.

KP Lettlands gelähmt

und bewegt sich doch

Keine Frage - das nationale Erwachen hat die KP Lettlands in eine Zerreißprobe gestürzt. Vom radikalen Flügel der Volksfront, vor allem aber von der Bewegung für die nationale Unabhängigkeit wird die unverkennbare Kurskorrektur der Partei als Versuch interpretiert, die Bestrebungen nach Souveränität für sich zu vereinnahmen. Der konservative Flügel der Partei wittert hingegen in dem neuen Kurs der Parteispitze den Ausverkauf aller hergebrachten Prinzipien. Es ist das Bild einer zumindest teilweise gelähmten Partei, das sich da bietet: gleichsam im luftleeren Raum, weil von beiden größten ethnischen Bevölkerungsgruppen eher toleriert als akzeptiert und de facto bereits heute schon einer ungewohnten politischen Konkurrenz ausgesetzt. Und doch bewegt sie sich, wenn auch schlingernd.

So finden sich in dem Abschlußdokument des ZK-Plenums Sätze wie diese: „Die KP Lettlands tritt für einen neuen organisatorischen Status der Republik-Partei ein, der der Souveränität Lettlands entspricht.“ Oder: „Die KP Lettlands ist der Ansicht, daß die führende Rolle der Partei in der Gesellschaft nicht durch die Verfassung oder Gesetze bestimmt werden kann, sie kann allein durch praktische Arbeit erlangt werden.“

Die nächste Zerreißprobe steht bereits vor der Tür. Auf die Tagesordnung für ihren zweiten Kongreß im Oktober hat die Volksfront die Verabschiedung eines neuen Programms gesetzt; in dem Entwurf heißt es, die Volksfront strebe die „Erneuerung der staatlichen Unabhängigkeit Lettlands“ an, „die Bildung einer demokratischen parlamentarischen Republik, die Fortsetzung der demokratischen Traditionen der Republik Lettland, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für die lettische Nation, die Sicherstellung von gleichen Rechten für alle Einwohner Lettlands“. Welche Konsequenzen, fragt man sich da, werden die 20 Prozent KP-Mitglieder in der Volksfront für sich ziehen, sollte dieses Programm beschlossen werden?

Daß es beschlossen wird, darüber können inzwischen wohl keine Zweifel bestehn. Bei einer Umfrage unter Mitgliedern der Volksfront gaben 94 Prozent der Befragten an, sie hielten eine vollständige Unabhängigkeit Lettlands für wünschenswert, in der gesamten lettischen Bevölkerung liegt dieser Anteil immerhin noch bei 57 Prozent weitere 19 Prozent konnten sich zum Teil mit dieser Vorstellung identifizieren, während sie unter den Nicht-Letten von 51 Prozent rundweg abgelehnt wird.

50 Jahre Demütigung

Was macht das Verlangen nach staatlicher Souveränität Lettlands so drängend? Was beflügelt die Volksfront auf ihrem Unabhängigkeits-Kurs? Verschiedenes kommt da zusammen: das Bewußtsein einer jahrzehntelangen Entrechtung, ein tiefes Mißtrauen gegenüber jenen politischen Strukturen und Kräften, die diese Entmündigung ermöglicht und betrieben haben, das Gefühl der Letten, daß ihnen ihre Heimat zunehmend fremder geworden ist und daß ihnen von Fremden das Recht auf Heimat mit allen seinen Konsequenzen beschnitten wird.

Etwa die geduldete, wenn nicht geförderte Zuwanderung aus anderen Regionen der UdSSR, die den Anteil der Letten an der Bevölkerung über die Jahre bis an die 50-Prozent-Marge gedrückt hat. Noch in den sechziger und siebziger Jahren sind in der Republik Großbetriebe unter der Maßgabe errichtet worden, daß dort ausschließlich nichtlettische Arbeitskräfte beschäftigt werden. Darüber hinaus haben die mächtigen Unternehmen mit Rückenwind aus Moskau es verstanden, ihre Arbeitsimmigranten bevorzugt mit Wohnraum zu versorgen - und dies, obwohl allein in Riga 63.000 Familien Schlange für eine neue Wohnung stehen; zur Zeit beträgt die durchschnittliche Verweildauer auf den Antragslisten 20 Jahre.

Für die Zugewanderten und ihre Nachkommen wurde eine sprachliche und kulturelle Integration in ihre neue Umgebung erst gar nicht vorgesehen. Aus einem Leserbrief: „Ich bin eine in Lettland geborene 27jährige Russin. Als ich noch den Kindergarten besuchte, war dort vom Erlernen der lettischen Sprache keine Rede. Lettische Lieder, Tänze oder Gedichte wurden uns nicht beigebracht - ganz so, als ob wir gar nicht in Lettland lebten. Auch in der Schule hatten wir nur zwei Jahre lang Lettischunterricht.“

Oder das Privileg der sowjetischen Offiziere, sich nach der Entlassung aus dem aktiven Dienst am Ort ihrer letzten Stationierung niederzulassen und vorrangig mit Wohnraum bedacht zu werden. Gerade die Westgrenze der UdSSR zeichnet sich nicht nur durch eine Vielzahl militärischer Einrichtungen, sondern auch durch einen für sowjetische Verhältnisse hohen Lebensstandard aus. Was könnte da für einen Ex-Offizier näherliegen, als sich mit der ganzen Familie in Riga anzusiedeln, mit dem Seebad Jurmala gleichsam vor der Haustür? Diesen Veteranen mag der ehemalige Militärstaatsanwalt und jetzige stellvertretende Direktor der Glühbirnenfabrik in Riga, R. Dudniks, ganz aus der Seele gesprochen haben, als er erklärte: „Wie konnte es dazu kommen, daß in einem vereinheitlichten Staat russische Einwohner diskriminiert werden, die dort in der Mehrheit sind? Zudem wird dies offen betrieben, von Einwohnern, deren Zahl nur ein Prozent von der Gesamtbevölkerung des Staates beträgt. Ein solches Paradoxon hat es in der Geschichte der Menschheit noch nicht gegeben.“

Radikalisierung

der Volksfront

Wer kann man es Eduards Derklavs verdenken, daß er heute an der Spitze der Bewegung für die nationale Unabhängigkeit Lettlands steht? Als Funktionär des kommunistischen Jugendverbandes hatte er nach 1934 aus dem Untergrund heraus für den Sieg des Sozialismus in Lettland agitiert; er hat auch miterleben müssen, wie dieser Sieg 1940 unter Stalin verwirklicht wurde: als scheindemokratisch legitimierter Anschluß an die UdSSR. In den Reihen der Roten Armee kämpfte Berklavs gegen Hitlerdeutschland, nach dem Krieg wurde er Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates der lettischen SSR. In diesem Amt versuchte Berklavs eine Politik zu gestalten, die sich wie eine Vorwegnahme der heutigen ökonomischen Perestroika im Baltikum ausnimmt. Von seinen moskauorientierten konservativen Gegenspielern im Parteiapparat unter Chruschtschow als „Nationalkommunist“ denunziert wurde er 1959 geschaßt. Achteinhalb Jahre lang mußte Berklavs anschließend in Wladimir unweit Moskau in Verbannung leben.

Enttäuschend ist auch das Stichwort für eine Erklärung, mit der der Führungsausschuß der Volksfront am 31. Mai 1989 die Debatte um einen neuen Kurs der Reformbewegung eröffnete. In ihrem ersten Programm, heißt es in dem Dokument, sei die Volksfront noch davon ausgegangen, daß eine reelle Souveränität Lettlands auch innerhalb einer föderal umgebauten Sowjetunion zu erlangen sei. Das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen georgische Demonstranten am 9. April in Tblissi und das Unverständnis, mit dem im Kongreß der Volksdeputierten der UdSSR auf die Autonomiebestrebungen der baltischen Republiken reagiert worden sei, werfen die Frage auf, ob nicht eine vollständige politische und ökonomische Unabhängigkeit Lettlands anzustreben sei.

In dieselbe Richtung deutet auch der Zuspruch, den die Bewegung der Bürgerkomitees erfährt. Sie geht von der Überzeugung aus, daß eine ganze Reihe von Staaten - darunter auch die BRD, USA, Großbritannien, Frankreich und China die Angliederung der baltischen Staaten an die Sowjetunion als gewaltsame Annexion betrachten und deshalb nicht anerkannt haben. Mithin besteht aus der Sicht dieser Staaten die unabhängige Republik Lettland bis zum heutigen Tag de jure weiter. Dies vorausgesetzt, können auch nur die Bürger jener Republik und deren Nachkommen der Souverän Lettlands sein. Ziel der Bürgerkomitee-Bewegung ist es, bis Ende Oktober 800.000 solcher Bürger - die Mehrheit der lettischen Bevölkerung - zu registrieren, die anschließend aus ihrer Mitte ein Gremium wählen, „das als einziges legitimiert wäre, die Republik Lettland in den Beziehungen zur UdSSR und den übrigen Staaten zu vertreten“.

Dieses Konzept ist allerdings auch in den Reihen der Volksfront nicht unumstritten. So gibt zwar ein konsequenter Vertreter der Bürgerkomitee-Bewegung zu Protokoll, für ihn gebe es nur eine Staatsangehörigkeit, nämlich die der Republik Lettland, deshalb gedenke er auch nicht an dem Urnengang zum Obersten Sowjet der Lettischen SSR im nächsten Frühjahr teilzunehmen: „Das sind Wahlen zu einem Organ der sowjetischen Besatzungsmacht.“ Diese Haltung mag zwar ehrenwert sein, doch die Nachteile sind offenkundig: Massenhaft praktiziert, könnte sie den Durchmarsch konservativer Kandidaten ermöglichen. Hingegen hat sich selbst der radikale Flügel der Volksfront für die Ausschöpfung aller demokratischen Mittel ausgesprochen. Seine uneingeschränkte Unterstützung der Bürgerkomitees verknüpft er mit dem Aufruf zur Teilnahme an den Wahlen und zur Stimmabgabe für „progressive Bewerber“.

Wie auch immer, im Baltikum werden die Zeiten schlechter für nachdenkliche Töne. Unter der Überschrift „Unabhängigkeit oder Euphorie“ schreibt der Journalist Viktors Avotins, einer der „Gründungsväter“ der Volksfront, ja, er habe im Führungsausschuß der Volksfront für die Erklärung vom 31. Mai gestimmt, aber er könne dabei eine gewisse Skepsis nicht verhehlen. Diese rühre nicht vom angestrebten Ziel, der Unabhängigkeit Lettlands, her, sondern davon, daß die Volksfront „keine praktische, programmatische Deckung“ für dieses Ziel anzubieten habe. Überschwang statt Politik, lautet die Diagnose von Avotins; Journalisten-Kollegen in Riga stecken es mir, daß er sich mit diesen Anmerkungen bereits den Ruf eines Nestbeschmutzers eingehandelt habe.

Ebenso, wie es der nationalen Reformbewegung an realistischen Konzepten für einen Zustand Lettlands außerhalb des Staatsverbandes der UdSSR zu mangeln scheint, zeigt sich die Partei aber auch nicht in der Lage, einen Vorschlag anzubieten, der das Selbstbestimmungsrecht der Letten auf praktikable Weise mit einem weiteren Verbleib Lettlands in der Sowjetunion verknüpft.

Es sind schon schwere Geschütze, die das ZK der KPdSU gegen die Autonomen-Bewegung im Baltikum auffährt: „extremistisch“, „ähneln politischen Gruppierungen aus der Zeit der faschistischen Besatzung“ etwa. Ein orthodoxer Versuch mithin, sich der Einsicht zu verschließen, daß der Partei mit den Unabhängigkeitsbegehren nunmehr in aller Öffentlichkeit die Rechnung für fast 50 Jahre einer deformierten Nationalitätenpolitik präsentiert wird.