Genscher: Polens Grenze bleibt!

■ Vor der UNO-Vollversammlung versucht der Bundesaußenminister Befürchtungen vor deutschem Revanchismus zu zerstreuen / Nachkriegsgrenzen seien tabu - nationale Alleingänge werde es nicht geben

Berlin (afp/dpa/taz) - Kategorisch hat der Außenminister der Bundesrepublik, Hans-Dietrich Genscher, in seiner gestrigen Rede vor der UN-Vollversammlung jedes Anzeichen von Revisionismus in der bundesdeutschen Außenpolitik bestritten. Gleich zu Beginn seiner Rede versicherte Genscher demonstrativ, daß das Recht Polens, „in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird“. „Das Rad der Geschichte“, so der Minister an das versammelte Auditorium der UN, „wird nicht zurückgedreht. Wir wollen mit Polen für ein besseres Europa der Zukunft arbeiten. Die Unverletztlichkeit der Grenzen ist Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa.“

Mit diesem Einstieg ging Genscher indirekt auf den sowjetischen Außenminister Edvard Schewardnadse ein, dessen Rede vom Vorabend zu einer „deutlichen Verstimmung“ ('dpa‘) in der bundesdeutschen Delegation gesorgt hatte. In klarer Anspielung auf Äußerungen aus der CDU/CSU der letzten Wochen wandte sich Schewardnadse an jene, die die Kräfte des Revanchismus „bewußt oder unbewußt ermuntern“. Wörtlich sagte er: „Heute, da die Kräfte des Revanchismus, die nach Revision und Veränderung der Nachkriegsrealitäten in Europa dürsten, vor unseren Augen wieder aktiv werden, sind wir verpflichtet, jene zu warnen, die sie bewußt oder unbewußt ermuntern.“

Schewardnadse machte aber gleichzeitig auch klar, daß die Sowjetunion eine friedliche Veränderung des Status quo ausdrücklich toleriere. Ebenfalls am Beispiel Polens gab er zu, daß „der Mißerfolg der polnischen Kommunisten bei uns keine Begeisterung ausgelöst hat“. Trotzdem „sind wir gegenüber der neuen Koalitionsregierung mit keinerlei Vorurteilen behaftet. Wir wünschen ihr jeden denkbaren Erfolg und sind bereit, mit ihr zusammenzuarbeiten.“

Die derzeitige Situation in der DDR sparte der sowjetische Außenminister ausdrücklich aus. Der bundesdeutsche Außenminister nutzte hingegen das UN-Forum zu einer erneuten Aufforderung an die SED-Führung, sich nicht länger gegenüber den Entwicklungen in der UdSSR, in Polen und Ungarn abzuschotten. Eine Reformpolitik, so Genschers Erwartung, würde auch in der DDR neue Perspektiven eröffnen und „die Menschen ermutigen zu bleiben“. Denn den derzeitigen Massenexodus könne niemand wünschen.

Gleichzeitig betonte Genscher, die Bundesregierung suche auch Fortsetzung auf Seite 2

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weiterhin die enge Zusammenarbeit mit Ost-Berlin. Die Frage der Wiedervereinigung und Deutschen Einheit mit dem Ziel der Selbstbestimmung „könne nur unter voller Achtung der bestehenden Verträge erreicht werden“. Ausdrücklich versuchte er noch einmal, möglichen Befürchtungen in Ost und West über die künftige bundesdeutsche Politik entgegenzutreten. Niemand habe Anlaß, diese Politik zu fürchten. Sie sei eingebettet in das Schicksal des Kontinents. „Das schließt nationale Alleingänge aus.“

JG