Stromtrasse elektrisiert die Koalition in Berlin

Wird die Koalitionsfrage gestellt? / Momper hält Trasse für alleiniges Problem der Alterntiven Liste / AL-Senatorin Schreyer will unterirdische Trasse / Warnschuß der AL-Basis nach vielen Enttäuschungen gegen die SPD und gegen die eigenen Funktionäre  ■  Aus Berlin Brigitte Fehrle

Die Stromkabel, die das Berliner Energieunternehmen Bewag vom Norden der Stadt quer durch den Spandauer Forst bis zum Kraftwerk Reuter legen will, senden derzeit für die rot -grüne Koalition lebensgefährliche Stromstöße aus. Nicht nur, weil die Basis der AL auf ihrer Auffassung besteht, daß sie den Strom aus Westdeutschland nicht will. Auch in der SPD, namentlich in den betroffenen nördlichen Bezirken, regt sich Widerstand. Widerstand gegen den Strom selbst, aber vor allem Widerstand gegen die zwei Dutzend 70 m hohen Freileitungsmasten, die die Bewag aufstellen will. Wenn also der Regierende Bürgermeister Momper sagt, die Stromtrasse sei das Problem der AL, so tut er es wider besseres Wissen.

Die Basis der AL hat durch ihren Beschluß, die Stromtrasse grundsätzlich abzulehnen, Rot-Grün in den koalitionsfreien Raum katapultiert. Der Blick in die Koalitionsvereinbarung fördert einen „Prüfauftrag“ zutage, der auch durchgeführt wurde. Darin wurde festgestellt, daß der Stromlieferungsvertrag zwischen der Bewag und dem westdeutschen Stromkonzern Preussag, der sogenannte „Stromverbund“, der das Berliner Stromnetz mit dem westdeutschen verbindet, rechtsgültig ist. Eine Erblast aus CDU/FDP-Regierungszeiten. Das war vor zwei Monaten. Der Senat hat damals samt Umweltsenatorin Schreyer dieses Gutachten akzeptiert und sich dann dem Problem zugewandt, wie der Strom durch das Stadtgebiet geleitet werden soll. Der Antrag der Bewag lautet auf Freileitung, also Strommasten. Das allerdings wollte die AL keinesfalls akzeptieren. Sie verlangt eine unterirdische Leitung.

Soweit wäre alles in Butter, hätte jetzt nicht die erneute grundsätzliche Ablehnung der Stromtrasse durch die AL Umweltsenatorin Schreyer in eine absurde Lage versetzt. Sie müßte jetzt prüfen, welche Trassenführung die umweltverträglichste ist - aber ihr sind die Hände gebunden. Denn prüft sie, hieße das ja, sie akzeptiert den Stromlieferungsvertrag, den abzulehnen ihr die AL-Basis auferlegt hat.

Während also die AL-Basis in Fundamentalopposition verharrt, streiten sich AL und SPD im Senat bereits aufs heftigste über die Art der Trassenführung. Wirtschaftssenator Mitzscherling (SPD) würde der Bewag die Strommasten wahrscheinlich am liebsten eigenhändig aufstellen und tut alles, um der Umweltsenatorin, die unterirdisch bauen will, die Arbeit schwer zu machen. Bis heute hat er ihr keine Einsicht in das Vertragswerk zwischen Bewag und Preussag gewährt. Sie wirft Mitzscherling vor, seinerseits seine Schulaufgaben nicht zu machen und die Wirtschaftlichkeit einer unterirdischen Leitung nicht sorgfältig zu prüfen. In 14 Tagen, so das Ergebnis der turbulenten Senatssitzung vom letzten Dienstag, sollen neue Ergebnisse vorliegen.

Doch vorher - am nächsten Sonnabend - tagt erneut die AL -Mitgliederversammlung, und derzeit zerbrechen sich die Funktionäre den Kopf darüber, wie sie das Thema Stromtrasse erneut zur Abstimmung stellen können. Denn wenn die Basis sich nicht dazu entschließen kann, ihr Placet zu geben, steht am 4. Oktober - da tagt der Koalitionsausschuß - Rot -Grün zum ersten Mal ernsthaft in Frage.

Das will niemand, auch nicht die SPD. Inzwischen ist man sich bei den Sozialdemokraten wohl auch klar darüber, daß man es mit dem Machtspiel zu weit getrieben hat. Den Warnschuß, den die AL-Basis jetzt mit der Ablehnung der Stromtrasse abgegeben hat, haben die Sozialdemokraten wohl vernommen. In der letzten Fraktionssitzung waren deswegen nachdenkliche Töne zu hören. Man nimmt die Koalitionskrise ernst und erwägt jetzt „vertrauensbildende Maßnahmen“. Doch mit einer gut inszenierten Show wird sich die AL nicht zufriedengeben. Daß die Basis die Stromtrasse so rigoros ablehnt, sagt viel über die Stimmungslage in der Partei aus. Man hat die Nase voll, fühlt sich hingehalten, von den Sozis nicht ernst genommen. Neben den täglichen Kompromissen auf allen Feldern der Politik hat die unselige Debatte um die Einführung des Ausländerwahlrechts ein Großteil dazu beigetragen. Diese Frage wurde von den Sozialdemokraten nur sehr zögernd angegangen. Über Wochen weigerten sie sich, einen konkreten Termin zu nennen, zu dem der Gesetzentwurf ins Abgeordnetenhaus eingebracht werden sollte. Solange, bis sich bei der AL mit Fug und Recht der Eindruck breitmachte: „Die wollen gar nicht.“ Will die SPD also jetzt ernsthaft Zeichen setzen, darf nicht nur weißer Rauch aufsteigen.

Doch der Konflikt zwischen den Parteien erklärt die Situation nur zum Teil. Das Problem sitzt mitten in der Partei. Klammheimlich hat sich seit der Regierungsbildung eine neue Konfliktkonstellation eingeschlichen. Statt der verschiedenen Strömungen stehen sich inzwischen Basis und Funktionäre feindlich gegenüber. Der Schwung, mit dem sich im März 1.000 AL-Arme für die Koalition gehoben haben, war auch mit der Illusion verbunden, daß jetzt das AL-Programm zur Politik werden könnte. Dies ist nicht eingetreten, im Gegenteil. Die AL mußte schmerzlich lernen, daß selbst die Koalitionsvereinbarung nicht konsequent umgesetzt wird. Die Funktionäre haben damit leben gelernt und mit viel Energie die Basis bei der Stange gehalten. Doch inzwischen ist ihnen das Ruder entglitten. Gegen das Votum von Fraktion und Parteivorstand fiel der Entschluß zur Stromtrasse. Ein Denkzettel für „die da oben“, die den Bodenkontakt verloren haben. Die Enttäuschung der Basis ist groß. Die AL hat nicht gelernt, mit Kompromissen zu leben. Eindeutigkeit und Konsequenz haben die Oppositionspartei gekennzeichnet. Die Solidarität mit Partikularinteressen war grenzenlos. Heute muß hinter jedes Ja zu einer Forderung das Aber gesetzt werden. Geld, Sachzwänge und nicht zuletzt die realen Machtverhältnisse bedrängen die Regierungspartei. Die Partei ist nicht mehr das weiche Federbett, heute zwicken und zwacken viele Erbsen und stören die sanfte Ruhe.

Wie die Stimmung auf der Mitgliederversammlung am Wochenende sein wird, darüber wagt derzeit niemand eine Prognose. Einen Teil der Verantwortung trägt jetzt die SPD. Sie muß die AL-Basis bis dahin davon überzeugen, daß sie die Partei mit dem Igel-Symbol in der Koalition nicht nur als Mehrheitsbeschaffer mißbrauchen will.