Brief eines chinesischen Journalisten

■ Am 31.Mai schrieb ein junger chinesischer Journalist folgenden Brief, der die Ereignisse beschreibt und die Rolle, die die Presse dabei spielt. Der Brief erreichte den Empfänger am Tag des Massakers auf dem Tiananmen-Platz

Anonym

In den Büros der Nachrichtenagentur 'xinhua‘ ist der Name Li Peng mittlerweile eine Bezeichnung für „Idiot“ und „geistig zurückgeblieben“.

Als Tausende von Studenten im Hungerstreik waren und die Sirenenklänge der Ambulanzwagen über der Stadt hingen, konnte keiner mehr stillsitzen. Journalisten von 'xinhua‘ zogen schon zweimal auf die Straße zum Demonstrieren: 1.000 waren es unmittelbar nach der Erklärung des Kriegsrechts am 20.Mai, 600 zwei Tage später um Mitternacht, als das Gerücht laut wurde, die Armee, die gestoppt worden war, würde sich ihren Weg in die Stadt mit Gewalt erzwingen. In diesen Tagen gingen Millionen von Menschen auf die Straße, um die Studenten zu unterstützen. Keiner beschwerte sich über verstopfte Straßen, sondern man weinte Tränen der Sympathie mit den Studenten - und vor Wut über eine so unvernünftige Regierung.

Die Medien der Volksrepublik China sind darauf abgerichtet, „Organ“ oder „Mund und Zunge“ der Partei zu sein. Jedem Journalistikstudenten wird das von der Partei eingebleut. Die Argumentation läuft folgendermaßen: Die Partei repräsentiert die Interessen des Volkes; für die Partei zu sprechen, heißt deshalb, für das Volk zu sprechen. Über die Massendemonstrationen der letzten Zeit, an denen Millionen teilnahmen, wurde gesagt, daß dies nicht das Volk sei, das da Partei und Regierung Widerstand entgegensetze.

Die Mehrzahl der Demonstranten sei von einer Minderheit manipuliert, deren Ziel es sei, Chaos zu stiften. Da wesentlich mehr Menschen nicht demonstrierten und also gegen das Chaos seien, repräsentierten Partei und Regierung weiterhin die Mehrheit des Volkes.

Als Mitte April die ersten Demonstrationen stattfanden, gab es kaum Berichte - geschweige denn objektive Berichterstattung - darüber in den chinesischen Medien. Nach Jahren der Kontrolle und Manipulation wußten Redakteure genau, was sie zu tun und zu lassen hatten. Als sich die Dinge jedoch weiterentwickelten und die Regierung die Kontrolle über die Situation zu verlieren schien, hatte sie wenig Zeit, sich um die Medien zu kümmern. Also beschlossen die Redakteure, etwas zu versuchen. Am 4.Mai erschienen die ersten detaillierten und objektiven Berichte. Mutige Reporter hatten vorher schon Geschichten in den Fluren ihrer Zeitungsbüros - darunter 'China Daily‘, 'People's Daily‘ und 'Chinese Youth Daily‘ - ausgehängt, die ihre Redaktionen jedoch nicht zu drucken wagten. Es sah so aus, als ob die Medien die ersten Nutznießer der Demonstrationen für Demokratie und Freiheit sein sollten.

Am 4.Mai schlossen sich zum ersten Mal seit der Gründung der Volksrepublik China 1949 Hunderte von Journalisten und Reportern aus 40 verschiedenen Medien öffentlichen Demonstrationen an. Unter ihren Slogans las man die folgenden: „Schützt das Wichtige“, „Hebt das Verbot von Nachrichten auf“, „Wir haben Münder zu sprechen, dürfen aber nicht sagen, was wir wollen; wir haben Bleistifte, aber dürfen nicht schreiben, was wir wollen“, „Wir wollen die Wahrheit berichten. Zwingt uns nicht zur Lüge“.

Aber die Freude war kurz. Am Nachmittag des 19.Mai wurden alle Redakteure davon unterrichtet, daß die Armee an den äußeren Grenzen der Stadt angekommen sei und in der Nacht noch zur Tat schreiten werde. Gleichzeitig erhielten sie eine „telefonische Botschaft“ von der Propagandaabteilung des Partei-Zentralkomitees: „Keine weiteren Berichte von den Demonstrationen“, und „Bei den jüngsten Ereignissen spielten die Medien eine sehr negative Rolle“. Es wurde ihnen mitgeteilt, daß eine fünfköpfige Führungsgruppe in der Propagandazentrale zusammengestellt worden sei, und daß alle Berichte bezüglich der Demonstrationen von ihr abgesegnet werden müßten.

Die Chefredakteure wagten nicht, ihrem Parteichef gegenüber ungehorsam zu werden, aber junge Reporter beschlossen, weiterzumachen. Als die von ihnen mit großer Sympathie für die Studenten geschriebenen Artikel jedoch erschienen, zeigte sich, daß diese plötzlich zu schamlosen Regierungsschmeicheleien geworden waren. Die Journalisten fühlten sich wie vergewaltigt.

In der Nacht vom 19. auf den 20.Mai wurde eine Kaderversammlung von Parteileuten aus der Hauptstadt, Regierungsleuten und Militär anberaumt. Man kam nicht zusammen, um zu diskutieren, sondern um Li Peng zuzuhören, der das Kriegsrecht erklärte. Auf eben jenem Treffen gab Li Ximing, der Parteisekretär von Peking, seinem Publikum einen kurzen Abriß über die jüngste Entwicklung, für die er, wie üblich, eine kleine Minderheit verantwortlich machte. Die Nachrichtenmedien wurden ganz besonders unter Beschuß genommen. Li Xing behauptete, sie hätten „Öl auf das Feuer gegossen“, „die Wellen aufgerührt“ und „die öffentliche Meinung auf Irrwege geleitet“. Li Peng sagte angeblich, daß er sich das Recht vorbehalte, die Führungspositionen in den Medien neu zu besetzen.

Am Morgen des 20.Mai wurde das Kriegsrecht offiziell ausgerufen. Für Medienleute gab es besondere Anweisungen: „Ohne besondere Erlaubnis ist weder inländischen noch ausländischen Reportern gestattet, den Platz zu betreten. Es ist strengstens verboten, unter der Maske von Interviews Widerstand zu schüren.“ Am gleichen Tag noch gingen Leute von fast allen wichtigen Medien - 'xinhua‘, 'People's Daily‘, den wichtigsten Rundfunksendern, dem größten Fernsehsender, von 'Workers Daily‘, 'Peasants Daily‘, 'Guangming Daily‘ und 'Chinese Youth Daily‘ auf die Straße, um gegen die Verhängung des Kriegsrechts zu demonstrieren. Die Belegschaft von 'xinhua‘ trug ein Banner mit einer Karikatur von 'xinhua‘, auf dem zwei überdimensionale Augen und ein zugeklebter Mund zu sehen waren. Die Leute von 'People's Daily‘ trugen ein Spruchband, auf dem stand: „Der Leitkommentar vom 26.August stammt nicht aus unserer Feder“. Ein Reporter von 'Chinese Youth Daily‘ meinte zu seinen ausländischen Kollegen: „Wir haben mehr gesehen als ihr, aber weniger gesagt.“

An diesem Tag sprach man auch viel über den Auftritt von Xue Fei, einem der bekanntesten Fernsehsprecher Chinas; er hatte die Kriegserklärung in offensichtlich halbherziger Weise vorgelesen, mit träger Stimme und ohne auch nur einmal in die Kamera zu blicken. Seitdem ist er vom Bildschirm verschwunden.

Da objektive Berichterstattung nunmehr unmöglich geworden ist, verfielen die Medien auf Andeutungen. Vorreiter hierbei war 'xinhua‘. Am laufenden Band produzierten sie Geschichten wie „Polnischer Premier macht seinen Privatbesitz öffentlich bekannt und sagt, er habe keine Geheimnisse“, „Ungarischer Parteisekretär erklärt, es sei eine historische Lehre, die Armee nicht zur Behebung einer inneren Krise einzusetzen“, „Ungarn rehabilitiert Imre Nagy“, letzteres eine Anspielung auf die zukünftige Rehabilitierung von Zhao, „Taiwans Premier zurückgetreten“ (in der Hoffnung, Li Peng würde es ihm nachmachen), „Khomeinis Gesundheit verschlechtert sich“ (in Erwartung, daß dies auch mit Deng passieren müßte).

Selbst Geschichten, die schon Wochen alt und eigentlich längst vom Tisch waren, wurden wieder zum Leben erweckt: „Drei Hurras für die Entlassung des lächerlichen Funktionärs“ (über die Absetzuung von Yang Huiquan, Vizegouverneur von Jaingxi, durch den Volkskongreß), „Parteisekretär von Gansu sichert journalistisches Recht auf Berichterstattung“ (über einen Parteisekretär, der einen Funktionär wegen der Behinderung zweier Reporter kritisiert hatte). Die 'People's Daily‘ und andere Zeitungen waren mehr als nur gewillt, diese Agenturberichte mit großen Schlagzeilen auf die erste Seite zu setzen. Obwohl dieses Spiel der Andeutungen das Rad der Ereignisse nicht zurückdrehen konnte, gaben sie wenigstens die Haltung der Journalisten und Redakteure wieder.

Die Nachrichtenmedien spielten in der Tat eine wichtige Rolle bei den Demonstrationen. Während sie ihren kurzen Flirt mit der Freiheit hatten und objektive Berichte druckten, weiteten sich die Demonstrationen auf ganz China aus. Als die Regierung die Medien wieder im Griff hatte, flauten auch die Demonstrationen wieder ab. Manche träumten davon, daß die Medien ihre Unabhängigkeit hätten erhalten können - und daß die Geschichte dann ziemlich anders ausgegangen wäre. Aber wie kann man die Erwartung hegen, daß ein Diktator ausgerechnet der Presse eine Freiheit zugesteht, die allen anderen verweigert wird? Li Peng und Deng wußten es besser. Obwohl vom Kriegsrecht nicht mehr Gebrauch gemacht werden mußte, wurde es in den zentralen Nachrichtenmedien sehr wirksam durchgesetzt. Zwischen dem 22. und 23.Mai schlichen die ersten 50 Soldaten in Zivilkleidung um Mitternacht in das 'xinhua'-Gebäude ein und versteckten sich im Versammlungssaal. Am nächsten Morgen wurden sie dort entdeckt und tausend 'xinhua'-Angestellte strömten demonstrierend in den Saal. Sie fanden schnell heraus, daß es keinen Sinn hat, mit den Soldaten zu diskutieren. Einer von ihnen sagte: „Wenn ich kein Soldat wäre, hätte ich mehr demonstriert als ihr; und wenn ihr an meiner Stelle wäret, hättet auch ihr den Befehlen gehorchen müssen und wäret nie hergekommen.“ Inzwischen sind noch mehr gekommen, und man trägt jetzt Uniform.

In einem „Presse Reform Seminar“, das die Journalistenvereinigung Pekings am 28.April abhielt, brachten viele Delegierte das gleiche zum Ausdruck: Während die Partei mehr und mehr Offenheit zuließ im Bereich der Ökonomie, Literatur und Kunst, hielt sie die Medien weiterhin unter fester Kontrolle, so als ob der Verlust der Kontrolle über die Medien schlimmer wäre, als der Verlust der Kontrolle über die Ökonomie.

Als dann das Unerwartete geschah, wurde die Kontrolle noch mehr verschärft.

Vom 15.April bis zum 4.Mai durften die chinesischen Medien

-mit wenigen Ausnahmen, besonders der 'World Economics‘, Shanghai, und 'Science and Technology‘, Peking - nur noch Agenturmeldungen von 'xinhua‘ bringen, die übrigens nicht unbedingt aus der Feder von 'xinhua'-Reportern stammten. Zeitungen durften keinerlei eigene Artikel über die Demonstrationen in Auftrag geben oder drucken. Die Reporter gingen dazu über, Material zu sammeln - nicht für Artikel, sondern für eine künftige Geschichtsschreibung. Das Publikum mußte sich über den 'BBC‘ und die 'Stimme Amerikas‘ informieren. Ein Journalist im Seminar sagte dazu: „Ist das nicht eine elende Situation?“

Hu Jiwei, der frühere Chef von 'People's Daily‘ und jetzt Mitglied des „Ständigen Politischen Rates des Chinesischen Volkes“ (Chinese People's Political Consultative Conference, CPPCC) prägte den Slogan: „Keine Freiheit der Nachrichtenmedien heißt keine wirkliche Stabilität.“ Er sagte: „Ohne Freiheit der Nachrichtenmedien fühlen sich die Menschen angesichts falscher Entscheidungen und angesichts der Verbreitung von Korruption hilflos. Milde Kritik ist sinnlos. Heftige Kritik ist nicht erlaubt. In ihrer Hoffnungslosigkeit versinken viele langsam wieder in Passivität und Feigheit. Sie haben keine Lust mehr, zu sprechen, zu denken, nicht einmal mehr, wütend zu sein. Dieser Zustand erweckt den falschen Eindruck von Stabilität und Einigkeit. In Wirklichkeit aber verschärft sich die Krise zur Zeit täglich.“ Er erklärte, daß Nachrichtenfreiheit eine der ersten Prioritäten des Volkes sei, da alle das Recht hätten, zu wissen, teilzunehmen und zu kontrollieren. Daher bräuchten die Journalisten die Freiheit, zu interviewen, schreiben, in Auftrag zu geben und zu drucken.

Hu ist ebenfalls ein glühender Verfechter der inoffiziellen Zeitungen. Noch im August 1982 gab es 58 solcher Publikationen. Alle verschwanden innerhalb von sechs Monaten. Als man 1984 mit dem Entwurf eines Pressegesetzes begann, wurde diese Problematik angesprochen. Eine Umfrage bei den CPPCC-Mitgliedern zeigte 1988, daß 55,9Prozent für eine Wiedereinführung dieser inoffiziellen Publikationen waren; 30,7 Prozent waren zwar generell dafür, meinten aber, die Zeit sei noch nicht reif, und nur weniger als zehn Prozent waren gegen diese Publikationen. Diese Frage ist entscheidend im Zusammenhang mit dem allgemeinen Pressegesetz. In den vergangenen fünf Jahren sind vier Entwürfe vorgelegt worden, das Gesetz jedoch läßt weiter auf sich warten.

Es gab das Gerücht, daß einer der Lösungsentwürfe am 20.Juni dem Nationalen Volkskongreß vorgelegt werden soll, aber die laufenden Ereignisse machen es höchst unwahrscheinlich, daß ein auch nur annähernd befriedigender Gesetzentwurf zustande käme. Die kommenden vier oder fünf Jahre könnten eine interessante Zeit werden - für Journalisten allerdings auch eine deprimierende.