AM ENDE DER ILLUSIONEN

Reconquista und Nelkenrevolution - Reisenotizen aus Portugal  ■  Lagos, Sommer 1989

Von oben das verkarstete und zersiedelte Land, eingeklemmt zwischen Gebirgen und Meer. Ein Provinzflughafen, beherrscht von Touristen. Reinigungspersonal wartet an der Treppe, bis die Leute aus dem Flugzeug raus sind, stumm und ohne eine Miene zu verziehen.

Es ist trocken und heiß, doch gilt die Gegend als Frucht und Gemüsegarten des südlichen Portugals. In die Augen springt aber vor allem die gewaltige touristische Landnahme und Bebauung. Ich fahre mit dem bummeligen Zug, den Landleute, Hausfrauen und junge Rucksacktouristen benutzen.

Im Kopf laufen Notizen zur portugiesischen Geschichte ab. Frühere Stammesgesellschaften, die sich vergeblich gegen die gewaltsame Zivilisierung durch die römische Klassengesellschaft auflehnten. Germanen, die kaum Spuren hinterlassen haben. Die maurische Periode, eine kulturelle und wirtschaftliche Blüte zu einer Zeit, als der große Karl die sächsischen Bauern schlachtete. Die dagegen jahrhundertelang laufende Reconquista ist der Geburtsakt und -mythos Portugals (und Spaniens). Ihr war ein expansiver Adel und ein selbstbewußtes Bürgertum zu verdanken, die mit dem König an der Spitze eine komplizierte Klassenkonstellation bildeten. Auf der Basis früher Nationenbildung wirft sich das spätfeudale/frühkapitalistische Portugal am frühesten in Europa auf die erstaunte und unterlegene asiatische, amerikanische und afrikanische Welt. Am frühesten auch, nämlich schon mit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, verfielen Macht und Reichtum des kleinen Landes mit seiner gerade mal einer Million Einwohner.

Nach 1700 zweite (Schein-)Belebung durch brasilianisches Gold. Beginnend mit dem Stalin des portugiesischen Absolutismus, Marques de Pombal, der das Land mit Manufakturen, Merkantilismus und Planwirtschaft auf Vordermann bringen wollte, über die Wirren der napoleonischen Zeit und die Folgejahre fand der zweite Anlauf zu einer bürgerlichen Revolution statt. Er scheiterte an der Schwäche der portugiesischen Bourgeoisie, die dem Sumpf eine korrupt-repressive Monarchie vorzog. Eine winzige Arbeiterbewegung hatte dagegen nichts zu bestellen. In der kurzen Periode der Republik (1910-1926) brachen die sozialen Konflikte aus, ohne zu einer politischen Richtung zu finden, und landeten folgerichtig in der am Faschismus orientierten autoritären Diktatur Salazars, die das Land fünfzig Jahre stillstellte, es einer trägen, an Überausbeutung im Inneren und an leichte Kolonialgewinne im Äußeren gewöhnten Oligarchie überließ. Lisboa

Korkeichenhaine mit Rinder- und Schafherden im morgendunstigen Alentejo, von ferne grüßen die Herrenhäuser, eindeutige soziale Geographie. An Setubal, der Stadt der Arbeiter und der Armen, vorbei komme ich in die Metropole, die aristokratisch-großbürgerliche, geprägt vom alten überseeischen Machtanspruch. Das „neue“ Zentrum wurde nach dem großen Erdbeben (1755) rechtwinklig am Reißbrett entworfen und einheitlich im nüchtern-repräsentativen Stil der Zeit hochgezogen. Das steht alles heute noch, wie auch die gesellschaftlichen Grundlagen bis weit in die Nachkriegszeit gleichgeblieben waren. Mittlerweile wirkt die Stadt etwas angestaubt in ihrem Pomp wie alle ehemals kolonialen Zentren. Die Infrastruktur ist auf dem Stand der dreißiger Jahre steckengeblieben, wobei die quietschenden und rumpelnden Straßenbähnchen gegenüber der Autopest vielleicht gar unverhoffte Zukunft haben. Sie verkehren vor allem in der verwinkelten Oberstadt, die malerisch verfällt, eine Folge vor allem des alten Mietrechts, das den Hauseigentümern enge Fesseln anlegte. Die Häuser sind im Begriff gesprengt zu werden.

Portugal 1989. Die Zeit der Nelken ist lange vorbei. Alltag, Lohnverlust und Armut sind wieder eingekehrt. Nirgends in Europa dürfte es so viele Bettler im jugendlichen oder „besten“ Alter geben wie hier, in Setubal hat man Hungerküchen einrichten müssen. Wieder herrscht der „rotativismo“, eine Art rotierendes Machtkartell zwischen den Personen und Cliquen der zu eigenem Nutz und Frommen Macht ausübenden politischen Klasse. Von Regieren kann in diesem Chaos keine Rede sein; dennoch und gerade deswegen bleibt alles so, wie es ist. Alcoba?a

Heute ist Sonntag, und auf dem nordportugiesischen Land ist Lisboa versunken - das war schon in der Zeit der salazaristischen Diktatur so, trat als politischer Gegensatz zur vorwiegend städtischen „Revolution der Nelken“ auf und ist heute erst recht nicht anders. Man/Frau hält sich hier kleinbäuerlich, patriotisch und kirchlich. Die Gläubigen wallfahren in Massen nach Fatima, die Aufgeklärteren pilgern zum guterhaltenen und den „mönchischen Kommunismus“ (Kautsky) des Zisterzienserordens widerspiegelnden Kloster von Alcoba?a.

In diesen Mauern mutet die Geschichte Portugals der letzten zwei Jahrzehnte wie eine politische Fabel oder Allegorie der Vergeblichkeit an. Bei näherem Zusehen hat es kaum anders kommen können.

Es ist wahr, der Ausbruch der revolutionären Volksphantasie nach dem Militärputsch, der doch nur eine kalkulierte Korrektur des hoffnungslosen Kolonialkrieges und der „Auswüchse“ der Diktatur sein wollte, überraschte die putschenden Militärs nicht weniger als die schier fassungslose europäische Linke. Schien doch das Ereignis jede marxistische Revolutionstheorie über den Haufen zu werfen. O povo, das Volk, riß die Schranken der Reaktion nieder, und seine Ausdrucksformen fanden sich in idealisierter Manier an den Wänden westdeutscher WGs wieder. Zu Tausenden eilten Helfer, Kritiker und Polittouristen nach Süden, zahlreiche internationale Beziehungen und Diplomarbeiten entstanden. Die alten herrschenden Klassen schienen politisch abgedankt zu haben, das Militär zersetzte und radikalisierte sich in Teilen geradezu zum Sturmbock der Revolution. In einem wahren Freudentaumel, den man oft als revolutionäres Volksfest beschrieben hat, schufen sich die unterdrückten Industrie- und Landarbeiter, Kleinbürger, Soldaten, Armen und Intellektuellen chaotisch und kreativ neue Aktions- und räteähnliche Organisationsformen. Begleitet war das alles von der Duldung, dem Wohlwollen bis hin zur Unterstützung seitens des MFA, der „Bewegung der Streitkräfte“.

Der ungewohnte Schwung und ausbleibende greifbare Erfolg ließen das Volk bald erlahmen, noch ehe es klare politische Ziele und Organisationen herausfinden und stabilisieren konnte. Der politische und juristische Überbau der alten Gesellschaft war zwar erschüttert und bürgerliche Freiheiten hergestellt worden, aber ihre Grundlage wurde nicht umgewälzt. Abgesehen von Verstaatlichungen blieb das Monopol der Produktionsmittelbesitzer gewahrt. Was sich teil- und zeitweise als sozialistische Revolution begriff und verstanden wurde, erwies sich bald als mehr schlecht als recht durchgeführte bürgerliche, welche die Integration des zurückgebliebenen Landes in die moderne kapitalistische Weltmarktfamilie, selbstredend am gehörigen Platz, einleitete und objektiv bezweckte.

Während ich dies am Ausgang der Klosterkirche schreibe, kommt eine große festtäglich gekleidete Taufgesellschaft herein, offensichtlich von besseren Eltern. Alle scheinen sich wohlgemut zu fühlen. Wie es war, so ist es, und so soll es bleiben. Die Gäste, viele jüngere darunter, ordnen sich zum Einzug in die Taufkapelle, vom Priester geleitet (was er übrigens auch im politischen Sinn weidlich von der Kanzel aus wahrnimmt). Familie, Patriarchat und Kirche - das ist immer noch die sozialideologische Basis der portugiesischen Gesellschaft. Porto

Dunkel sind die großen öffentlichen Gebäude der Stadt, dunkel wie der Handelsgegenstand, dem die Stadt Reichtum und Bedeutung verdankte: Schwarzen, die in Afrika eingefangen und an brasilianische Pflanzer verkauft wurden. Mag Portos Herz in barocken Kirchen ruhen, sein Geschmack am berühmten Wein hängen - sein eigentlicher Kau- und Verdauungsapparat befindet sich auf einem kleinen Platz am Douro-Ufer. Neben dem Denkmal Heinrich des Seefahrers, des Pioniers des portugiesischen Kolonialismus im 15. Jahrhundert, erhebt sich die Börse, errichtet und geziert mit historisierenden Bildern eines machtbewußten Handelsbürgertums.

Mit dem Portwein hat es übrigens noch eine eigene Bewandtnis. Er kann nämlich als Mittel des Freihandels und seiner Folgen für ein wirtschaftlich unterlegenes Land gelten. 1703 schlossen England und Portugal den in allen volkswirtschaftlichen Lehrbüchern erwähnten Vertrag von Methuen, in dem sie sich gegenseitig Meistbegünstigungsklauseln für Portwein und Textilien einräumten. Adam Smith feierte das als einen Triumph des Gesetzes der komparativen Kosten, d.h. jedes Land reüssiert mit dem Produkt, das es am besten und am billigsten herstellen kann. Ganz hübsch in der Theorie. Portugal konnte nun zwar Exporterlöse einstreichen. Sie blieben aber nicht nur weit hinter den englischen zurück, es fehlte auch das merkantile Hinterland, um sie gewinnbringend weiterzuverwerten. Kurzerhand übernahmen britische Kompanien später selbst Herstellung und Vertrieb des Weins. Da auch der Absatz britischer Textilien bestens lief, schlug John Bull zwei Fliegen mit einer Klappe. Die einheimischen Manufakturen wurden erstickt und die portugiesischen Bourgeois ins Rand- und Rentnerdasein abgedrängt.

So schlecht lebt(e) es sich nicht, wie man an den Villen am Ausgang der Stadt zum Atlantik hin sehen kann. Ganz in der Nähe des Drecks, den die veralteten Betriebe Portos ausspucken, badet das Volk. Nur wer mehr Geld hat, kann an saubere Strände fahren. Neben ihrer Kompradorenfunktion entwickelte das portuensische Bürgertum schließlich doch etliche Industrie, mehr als in jeder anderen Region des Landes, und hielt sich politisch liberal, wenn es ging. In der hiesigen Arbeiterschaft regten sich außer dem Alentejo und der Region Lissabon die meisten Sympathien für die Nelkenrevolution. Etwas Nüchternes, Betriebsames, Fortschrittliches durchweht die Stadt, mindestens wenn man von seinen Elendsvierteln unterhalb der Kathedrale absieht, es ist alles enger und öffentlicher. Porto heißt die heimliche, d.h. wirtschaftlich reale Hauptstadt des Landes. Vom „modernen Produktionsgeist“ der Region wird man noch sprechen. Neben der malerischen Eisenbahnbrücke Eiffels über den Douro wächst die neue aus Stahlbeton aus dem Boden, mit Mitteln der Europäischen Entwicklungsbank gefördert.

Gerhard Armanski