Über die Redefreiheit der Opposition

Wahrheit ist nicht absolut, und noch weniger ist sie einheitlich / Von Wang Dan  ■ E S S A Y

Die Redefreiheit als ein wichtiges in der Verfassung verankertes Grundprinzip wird seit langer Zeit unablässig von Despotie und Autokratie mit Füßen getreten, was sich ganz deutlich an den widerrechtlichen, gewaltsamen Beschränkungen der Redefreiheit der Opposition durch die Behörden im tatsächlichen politischen Leben zeigt. Diese Beschränkungen entsprechen der zwangsweisen öffentlichen Verkündung folgender Formeln: Wahrheit Weltanschauung des Proletariats Marxismus Weltanschauung der Partei Erklärungen der Führungsorgane dieser Partei der höchste Führer. Es ist offensichtlich, daß diese Argumentation nicht haltbar ist.

Die Beschränkung der Redefreiheit der Opposition beruht möglicherweise auf einer der folgenden Einsichten:

(1) Die Regierungspartei oder die Behörden vertreten die Interessen des Volkes, sie sind im Besitz der Wahrheit.

(2) Die Absurdität der oppositionellen Meinungen wird in schwerwiegendem Maße schlimme Folgen für die Gesellschaft nach sich ziehen. Insofern haben die Führer des Denkens der Volksmassen eine Verantwortung, deren Verbreitung einzuschränken.

(3) Ein Erstarken der Opposition führt zur Störung der öffentlichen Stabilität und Einheit, zur Zerschlagung eines normalen Gangs der politischen Entwicklung.

Dem obengenannten ersten Argument kann folgendermaßen widersprochen werden:

(A) Wahrheit ist nicht absolut, und noch weniger ist sie einheitlich. Zugestandenermaßen ist es möglich, daß das Proletariat im Besitz der Wahrheit ist, jedoch kann das Bürgertum oder eine Minorität ebenso im Besitz der Wahrheit sein. Es ist dies das Prinzip: Vor der Wahrheit sind alle Menschen gleich.

(B) Befindet man sich wirklich im Besitz der Wahrheit, so wird man eine oppositionelle Meinung nicht unterdrücken. Im Gegenteil, je weiter die Verbreitung von Irrtümern, desto größer die Gewißheit der Wahrheit, desto umfangreicher deren Beweis, denn jegliche Wahrheit entsteht im Prozeß eines Kampfes gegen den Irrtum. Hieraus ist ersichtlich, daß eine Beschränkung der Redefreiheit der Opposition, das heißt deren Schwächung, Ausdruck eines Mangels an innerer Überzeugung ist und notwendigerweise eine Verbreitung der Wahrheit behindert.

(C) Die Interessen des Volkes sind vielfältig, jede Schicht hat eigene Interessen und Forderungen. Das, was von der Regierungspartei als Repräsentantin des Volksinteresses vertreten wird, kann unmöglich die Interessen des ganzen Volkes widerspiegeln.

(D) Es ist nicht möglich, daß irgendeine politische Partei sich nur aus homogenen Elementen konstituiert. Als politische Gruppierung der Volksmassen mischen sich in sie notwendigerweise Persönlichkeiten jeglicher Couleur, also auch solche Karrieristen, die bereit sind, unter Ausnutzung der Macht die Wahrheit zu verfälschen und das gemeine Volk zu verdummen, um dadurch ihre persönlichen Wünsche zu befriedigen. Gibt es als Gegengewicht zu solchen Leuten keine äußere Stimme, die beurteilenden und überwachenden Charakter besitzt, so kann dies nur zu einer skrupellosen Durchführung ihrer wahrheitsverfälschenden Aktionen führen. Denn obwohl innerhalb der politischen Partei Beschränkungsmechanismen existieren, besteht dennoch die Möglichkeit, daß diese von jenen manipuliert werden und so gar nicht zur Anwendung kommen. Dies schon gar nicht in der tatsächlichen Situation in China, wo unter der Diktatur einer Einheitspartei die regierungsparteiinternen Beschränkungs- und Kontrollmechanismen überhaupt nicht zum wirkungsvollen Einsatz kommen können. Das heißt, daß die Beschränkung der Redefreiheit der Opposition leicht zum Humus für die Durchführung und Erleichterung von Aktionen der Gauner wird.

(E) Auch Wahrheit ist kritisierbar. Wenn man nun sagt, die Reden der Opposition riefen geistiges Chaos hervor, dann ist dies mit Sicherheit deshalb so, da in ihnen auch Dinge enthalten sind, die von anderen für annehmbar befunden werden. Hieraus leiten sich zwei Probleme ab: a) Eine Minorität kann sich möglicherweise im Besitz der Wahrheit befinden, b) völlig absurde Meinungen nicht zu bestrafen, abweichende Meinungen jedoch, die eine bestimmten Wert in sich tragen, durch Beschränkungen zu bestrafen, ist ungerecht. Ebenso ist es ungerecht, daß die Wahrheit oder der Kommunismus nicht kritisiert werden dürfen.

Dem obengenannten zweiten Argument kann folgendermaßen widersprochen werden:

(A) Selbst wenn wir anerkennen würden, daß eine Regierung oder Regierungspartei die Verantwortung trage, Heterodoxie und ungesundes Gedankengut einer Bestrafung zuzuführen, sogenannte „politische Führung“ zu praktizieren, so wäre es dennoch so, daß, wenn die Meinungen der Opposition beschränkt würden und nicht zur Verbreitung gelangten, diese Bestrafung auf einer für die Menschen unzugänglichen, geheimen Ausgangslage beruhte. Wie sollte man folglich, wenn noch nicht einmal Klarheit darüber herrscht, was heterodoxes Gedankengut ist, über irgendwelche Bestrafungen reden?

(B) Das Herrschen der Regierung als Vertreterin des Bürgerwillens muß sich auf einem gegenseitigen Vertrauensverhältnis mit dem Bürger gründen. Zu fürchten, oppositionelle Meinungen könnten schlimme Folgen nach sich ziehen, heißt offensichtlich kein Vertrauen in das Urteilsvermögen des Bürgers zu besitzen, es geringzuschätzen. Nur eine Regierung, die dem Satz „Die Augen des Volkes sind wachsam“ (Mao Zedong, d.Red.) feindlich gegenübersteht, mag sich anschicken, die Redefreiheit der Opposition zu beschränken.

(C) Wie falsch auch immer die Meinung der Opposition sein mag, man muß ihrer freien Verbreitung dennoch stattgeben. Was aber ein Urteil über den Wert einer Theorie oder eines Glaubens anlangt, so kann dies natürlicherweise nur pluralistisch sein und unmöglich einen festgelegten Vertreter haben. Hieraus folgt, daß das Urteilsresultat eines Untersuchungsapparates niemals das Urteil einer Bevölkerungsmehrheit repräsentieren kann.

(D) Die Redefreiheit wie auch der Privatbesitz sind beides heilige und unverletztliche Naturrechte. Marx verglich einmal die Freiheiten der Verbandsgründung, Publikation, Versammlung usw. (darunter natürlich auch die Redefreiheit) mit „Erde, Luft, Licht und Raum“. Das Adäquate dieser Metapher besteht darin, daß sie bildlich verdeutlicht, daß, wie auch ein Rowdy oder ein Geisteskranker Luft, Erde und Licht genießen dürfen muß, ebenso, selbst wenn es sich um eine Meinung handelt, die das bestehende System ablehnt, innerhalb dieses bestehenden Systems die Freiheit zur Verbreitung dieser Meinung bestehen muß.

(E) Falls die Meinung der Opposition tatsächlich zu schweren Ausformungen schlimmer Folgen führte, so besteht für die Regierung absolut die Möglichkeit, unter Anwendung der Macht des dem Bürger zugeeigneten Rechtsvollzugs, diese einer Bestrafung zuzuführen. Eine Beschränkung im voraus aber ist auf jeden Fall abzulehnen.

Dem dritten Argument kann folgendermaßen widersprochen werden:

Dem Funktionieren einer politischen Struktur inhärieren notwendigerweise mannigfaltige Widersprüche. Nur zu dem Zeitpunkt, zu dem diese sich gegenseitig die Waage halten, funktioniert die Struktur normal. Umgekehrt, wenn man mit aller Macht versucht, einem Widerspruch Hilfe zukommen zu lassen, um einen anderen niederzudrücken, so gerät zwingend die Struktur aus dem Gleichgewicht, und hierauf entsteht soziale Unruhe. Seit einigen Jahrzehnten beschränken wir nun schon die Redefreiheit der Opposition, versetzen allen andersdenkenden Kräften Schläge und haben doch keinesfalls eine politische Situation der Stabilität und Einheit aufgebaut. Ganz im Gegenteil.

Der Autor gehört zu den Aktivisten der Pekinger Studentenbewegung und ist seit Juni in Haft. Der hier in Auszügen veröffentlichte Text erschien zuerst in der Zeitschrift 'Der neue 4.Mai‘, herausgegeben an der Universität Peking im April dieses Jahres. (Übersetzung: Wolfgang Behr)