Eine neue „Wahrheit“ und ein alter Skandal in Rom

Im Falle des Abschusses einer DC-9-Maschine im Jahre 1980 soll nun jemand Libyens Ghaddafi gejagt haben / Bresche in Mauer des Schweigens gebrochen  ■  Aus Rom Werner Raith

Neun Jahre nach dem Abschuß der italienischen Linienmaschine DC 9 „Itavia“ über der Mittelmeerinsel Ustica 80 Kilometer vor Palermo scheint nun doch Licht in die „unseligste Affäre der Nachkriegszeit“ ('La Repubblica‘) zu kommen: Bei der Vernehmung der damals in den einzelnen Radarstationen der Flugroute diensthabenden Fluglotsen haben sich einige Beamte nun zum Bruch des bislang andauernden Schweigens entschlossen. Was bisher dabei herausgekommen ist, dürfte noch zu einem bösen politischen Gewitter führen.

Daß bereits unmittelbar nach dem zunächst als „Unglück“ deklarierten Absturz der DC am 27.Juni 1980, bei dem alle 81 Insassen umkamen, kräftig geflunkert, die Ermittlungen behindert, falsche Fährten gelegt wurden, war der Nation schon Ende 1980 klar: Mal sollte es „Materialermüdung“ gewesen sein, dann wieder ein „explodierter Motor“, vielleicht auch ein „Leck“ - zur allgemeinen Überraschung machte sich dann aber die Regierung keinerlei Mühe, die Blackbox mit den Auffzeichnungen der letzten technischen und vokalen Vorgänge in der Maschine aus dem Meer zu bergen; zudem stellte sich heraus, daß in den umliegenden Radarstationen ein Loch von acht Minuten in den Aufzeichnungen klafft - natürlich genau zur Absturzzeit. Angeblich hat jemand, Watergate läßt grüßen, „versehentlich“ den Löschknopf des Geräts gedrückt oder gerade das Band gewechselt, weil eine NATO-Übung im umgrenzenden Luftraum anstand.

Erst 1987 begann die (dann erfolgreiche) Suche nach den Wrackteilen. Ergebnis der Blackbox-Auswertung: An Bord war überhaupt nichts passiert, stattdessen lauten die letzten aufgezeichneten Worte aus dem Cockpit „Schau mal, da...“: Der Kapitän hatte offenbar im letzte Moment eine anfliegende Rakete gesehen.

Doch die Militärs und der seit Mitte der achtziger Jahre amtierende, erst im Juni 1989 abgelöste liberale Verteidigungsminister Valerio Zanone flunkerte kräftig weiter: Nachdem die „Unglücks„-These zusammengebrochen war, sollte mal ein libyscher Dissident mit einer MIG-23 aus Ghaddafis Reich geflohen und von einem Verfolger beschossen worden sein, mal sei gerade der US-Vize-Präsident Bush verbeigeflogen und ein Ghadaffi-Jäger habe diesen herunterholen wollen. Ein wesentlich später in den Bergen des kalabresischen Aspromonte aufgefundener MIG-Jet mitsamt des umgekommenen Piloten wurde mal als Übeltäter, mal als möglicher Flüchtling präsentiert, die Todeszeit mal auf den DC-9-Absturztag, mal auf drei Wochen später datiert.

Neue Zeugenaussagen

Auch die nun endlich - nach vielen Schwierigkeiten infolge des rigoros verhängten Staatsgeheimnisses - begonnenen Vernehmungen der damals Wachhabenden schienen zunächst wie gehabt zu verlaufen: Niemand wollte etwas auf dem Schirm gesehen oder gehört haben; „unglaublich“ schien den zuerst vernommenen Offizieren aus Licola bei Neapel und Marsala auf Sizilien die seit langem feststehende Tatsache, daß sogar die ferne militärische Leitstelle von Rom Ciampino den Abschuß beobachtet hatte (die dortigen Aufzeichnungen wurde kurz nach dem Absturz beschlagnahmt und verschwanden auf Nimmerwiedersehen) und von „merkwürdigen Flugbewegungen“ könne schon gar keine Rede sein.

Erst am Mittwoch nachmittag begann die Mauer erstmal zu bröckeln: Drei Beamte erklärten, sie hätten „die Tragödie in allen Einzelheiten gesehen“ und alles haarklein sofort an ihre Vorgesetzten berichtet. Danach sei kurz von dem Unglück eine fremde Linienmaschine von Tripolis kommend und wohl Richtung Tschechoslowakei fliegend, in den Luftraum eingedrungen, habe dann aber plötzlich die Route geändert und sei in Malta gelandet. Kurz danach sei die Rakete aufgetaucht, die schließlich die DC 9 zur Explosion gebracht habe.

Natürlich hebt nun neues Rätselraten an: War in der libyschen Maschine etwa Oberst Ghaddafi - er sollte tatsächlich zu dieser Zeit in Prag eintreffen - und hat ihn jemand „herunterzuholen“ versucht, was der Pilot aber durch sein Wendemanöver verhindern konnte - so daß sich die Rakete selbst ein neues Ziel suchte?

Keine Anfragen in Tripolis

Im italienischen Fernsehen präsentierte sich jedenfalls, hintergründig-freudig lächelnd, der Botschafter Libyens in Rom und erklärte, niemand habe bisher „bei uns überhaupt nachgefragt, was damals passiert sei“, jedenfalls werden man darüber „sehr gerne Auskunft geben, wenn jemand ernsthaft an der Aufklärung interessiert sein sollte“.

Einige Politiker und Beamte sind wohl genau daran nicht interessiert. Ex-Verteidigungsminister Zanone versichert noch immer, an die „Loyalität des Militärs seiner Geheimdienste“ zu glauben - obwohl die jahrelang so ziemlich alles gefälscht hatten, was an Materialien vorlag, bis hin zu den Anwesenheitslisten in den Radarstationen.

Staatspräsident Francesco Cossiga fordert zwar „nachdrücklich“ eine „lückenlose Aufklärung“, doch ganz wohl dürfte ihm dabei nicht sein - schließlich war er selbst während der Zeit des DC-Abschusses gerade Ministerpräsident, und es wird schwerfallen zu glauben, daß er nicht wenigstens in Umrissen über die wahren Tatbestände informiert war.