„Eine großartige Ablenkung von den eigenen inneren Problemen“

Horst-Eberhard Richter, Psychoanalytiker und Psychogewissen der Bundesdeutschen: Rechtstendenzen und Fremdenfeindlichkeit werden durch die DDR-Aussiedler verstärkt  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie brisant ist die politische Situation durch die Flüchtlingswelle aus der DDR?

Horst-Eberhard Richter: Ich halte sie für sehr brisant verstärkt dadurch, daß die Amerikaner nach wie vor eine Strategie verfolgen, die die Destabilisierung in der UdSSR fördert. Und wenn diese Strategie beibehalten wird, die zu einer Schwächung von Gorbatschow und der Perestroika führen soll, dann ist wiederum in der DDR kein Umschwenken auf Reformen zu erwarten. Im Gegenteil.

Was würde denn dann in der DDR passieren?

Es ist auch jetzt schon die Erwartung zu bemerken, daß Gorbatschow vielleicht fallen und scheitern wird. Und dann können sich in der DDR die konservativen Reformfeinde wieder stabilisieren. Wenn Gorbatschow unter dem Druck der Amerikaner mehr und mehr in Schwierigkeiten gerät, fehlt den Russen die Kraft, ihren Reformkurs, den sie gegenüber Polen und Ungarn durchgehalten haben, verstärkt in die DDR einzubringen.

Wie kann man der westlichen Kampagne, die die Ausreiser für ihr Wiedervereinigungsgeschrei benutzt, entgegentreten?

Die Chancen sind im Moment durch den vermeintlichen Sieg, den die Unionschristen und die Regierung feiern können, geschmälert. Jetzt kommen Ströme von Menschen mit leuchtenden Augen und sagen: Jetzt sind wir bei euch in der Freiheit, jetzt sind wir im Reich des Guten. Die Möglichkeit, sich selbst zu beweihräuchern und sich in den nächsten Monaten oder auch bei den kommenden Wahlkämpfen als das Paradies zu feiern, ist propagandistisch sehr gut zu verwerten.

...und dient der Ablenkung.

Genau. Es ist eine großartige Ablenkung von den eigenen inneren Problemen, von denen ich noch noch vor kurzem hoffte, daß man jetzt an ihnen arbeiten müßte. Denn das äußere Feindschaftsverhältnis war durch die Abrüstung der Russen weggefallen. Jetzt aber ist ein neues Feindbild da. Und das erleichtert es wieder - sozialpsychologisch gesehen

-, sich abzulenken von den eigenen Schwierigkeiten und sich sogar als Sieger aufzubauen. Vor allem, wo doch die armen Entrechteten aus dem Land des Schlimmen kommen, um in unserer Oase der Seligkeit mit uns zu partizipieren.

Wie werden die Übersiedler unsere politische Landschaft beeinflussen? Wird es verstärkte Rechtstendenzen geben?

Es sind zwei Dinge, die mir dazu einfallen. Zum einen, daß Umfragen unter den Übersiedlern klar ergeben, daß sie sich hier im Westen in Richtung Union und Republikaner orientieren. Zum anderen gibt es aber auch neuere Untersuchungen, die belegen, daß bei uns der Widerwillen gegen diese Übersiedlermassen rapide ansteigt. Ich glaube, knapp unter fünfzig Prozent der Befragten haben gesagt, man sollte das dosieren, man sollte die nicht mehr so einfach herlassen, man sollte nur Kontingente kommen lassen. Es kann also sein, daß die Übersiedlereuphorie, die im Augenblick noch herrscht, sehr irritiert wird.

Daß sie dann genauso abgelehnt werden wie Asylbewerber?

Ja. Die Gefahr eines Rechtsschwenks besteht wohl eher darin, daß sich Empfindungen wie die Feindlichkeit gegen Aussiedler, Übersiedler, Asylbewerber und das Gefühl, überfremdet zu werden, verstärken können. Aber das abzuschätzen ist schwierig. Zumal man sich ja auch nicht vorstellen kann, daß diese Massenflucht so weiter gehen kann, ohne daß es zu einer vielleicht gefährlichen Labilisierung der politischen Situation in Mitteleuropa kommt.

Interview: bam