Destabilisierung geplant

Atomphysiker Hans-Peter Dürr: Wiedervereinigungsparolen sind Propagandakalkül  ■ I N T E R V I E W

taz: Wie schätzen Sie die politische Lage in beiden deutschen Staaten aufgrund der Massenflucht aus der DDR ein?

Hans-Peter Dürr: Es bedrückt mich außerordentlich. In der augenblicklichen Weltkonstellation hätte eine Destabilisierung verheerende Folgen. Ich habe den Eindruck, daß viele am Werke sind, die eine Destabilisierung wünschen, weil dies über kurz oder lang zu einem Scheitern von Gorbatschow führen würde.

Wer wünscht das?

Ich glaube, daß im Westen viele, die heute das Thema Wiedervereinigung anführen, eigentlich diese Destabilisierung im Sinn haben. Sie wissen, daß wenn jetzt bei der momentanen Krise im Osten - von Wiedervereinigung gesprochen, Öl ins Feuer gegossen und die Destabilisierung angeheizt wird. Wenn man über Ostgrenzen redet, werden Ängste geweckt, die die Situation ins Schlingern geraten lassen müssen. Und ich vermute, daß es das ist, was hinter den Parolen steckt, und nicht, daß die Wiedervereinigung wirklich gewünscht wird. Das hätten sie uns früher gesagt. Ich glaube, daß weder die Franzosen noch die Amerikaner noch irgend jemand an der Wiedervereinigung interessiert ist. Und dies beunruhigt mich. Denn es ist ein propagandistisches Kalkül, das hier angewendet wird.

Was haben denn die Amerikaner für ein Interesse, Gorbatschows Reformpolitik zu stören?

Stellen Sie sich mal vor, die Polarisierung würde wirklich abnehmen. Dann würde man doch seinem Volk nicht mehr sagen können, daß die Hochrüstung wirklich wichtig ist. Dann müßte man daran gehen, wirklich abzurüsten. Denn auf Dauer kann man niemandem vormachen, daß diese ewige Steigerung noch Sinn macht.

Und die Konsequenzen der Abrüstung?

Wenn man sieht, wie viele Leute an der Rüstung verdienen, würde Abrüstung zu dramatischen wirtschaftlichen Einschnitten führen. Das will niemand. Die Hochrüstung ist auch nicht dafür gedacht, in einen Krieg zu münden. Ich krieg immer wieder Informationen mit dem Tenor: Hab doch keine Angst, der Krieg wird nicht kommen. Aber alle sind daran interessiert, daß die Rüstungsmaschinerie auf Hochtouren läuft.

Wie könnte man sie stoppen?

Es ist zuviel investiert worden in diesen Prozeß. Und wir erleben es ja im Augenblick, wo wir im Osten und im Westen sehr viel über Rüstungskonversion reden. Ich habe mit Amerikanern und mit Russen darüber gesprochen. Und alle haben gesagt, sie hätten enorme Schwierigkeiten, Rüstung zu konvertieren zu einer zivilen Produktion. Hohe sowjetische Regierungsleute haben sich an mich gewandt und gefragt: Gibt es Erfahrungen im Westen? Aber wir haben ja auch keine Erfahrung damit.

Und was heißt das für den Destabilisierungsprozeß?

Diese Probleme der Rüstungskonversion, die ich eben geschildert habe, sind absolut nicht trivial. Und man kann sie alle vermeiden, wenn Gorbatschow wieder weg ist, wenn man ein anständiges Feindbild hat, das man dem eigenen Volk servieren kann. Zusätzlich ist das Feindbild ja nicht nur dazu da, den Gegner schlecht zu machen oder eigene Mängel wegzubügeln. Es dient auch der Solidarität im eigenen Lager. Und deshalb ist ein anständiger Feind auch eine ganz praktische Sache.

Wie müßten wir im Zusammenhang mit der Flüchtlingswelle politisch handeln?

Was die Regierung jetzt tun kann, weiß ich auch nicht. Dennn sie ist schon zu weit gegangen. Ich selber habe in den vielen Gespräche, die ich auf offizieller und inoffizieller Ebene in Westdeutschland und der DDR geführt habe, immer den Standpunkt vertreten, daß man von westdeutscher Seite ganz klarmachen müßte, daß wir an einr Änderung der Grenzen kein Interesse haben. Daß uns nur daran liegt, sie durchlässiger zu machen.

Durchlässig sind sie ja zum Teil schon.

Ja, aber wir müssen klarmachen, daß wir das andere Deutschland nicht destabilisieren wollen. Wir wollen auch nicht, daß die Leute jetzt alle zu uns rüberkommen, sondern daß sie in ihrem eigenen Land Reformen anregen, so daß das Leben für sie auch dort lebenswert wird. Und wir sollten sie unterstützen, das durchzuführen, was letzten Endes auch ein sozialistischer Staat in seinen Statuten hat: die Selbstbestimmung der Menschen. Das muß etabliert werden, nicht ein Funktionärsstaat. Und ich würde den Menschen im anderen Teil Deutschlands gerne die Gewißheit geben, daß wir hier zurückhaltend sind und diesen Reformprozeß, wenn er in Gang kommt, nicht stören.

Ein Reformprozeß wie in der Sowjetunion?

Wir sehen am Beispiel der Sowjetunion, daß immer dann, wenn man den Druck etwas wegnimmt, ein Staat dieser Art leicht in die Gefahr kommt, wie ein Dampfkessel zu zerspringen. Deshalb muß man dafür sorgen, daß es schon pfeift, aber daß die Strukturen sich evolutionär verändern können. Und da würde ich dann gerne dem anderen die Sicherheit bieten, daß ich nicht auch noch von außen schüre. Wie man das machen kann, weiß ich nicht. Aber ich sehe, daß wir auf westlicher Seite mit dem Problem der Republikaner im Nacken glauben, auch diesen Prozeß noch forcieren zu müssen. Das ist eine ganz, ganz schlimme Situation.

Interview: bam