Bahr und Falin suchen neue Qualität

Zwei Männer geben eine „Lektion“ in Sachen Nachdenklichkeit. Der eine, Egon Bahr, Chefdenker sozialdemokratischer Ostpolitik, merkt an, ihm sei in den letzten Tagen aufgefallen, daß selbst in seriösen bundesdeutschen Publikationen das „Drama in der Prager Botschaft“ immer unter der Prämisse abgehandelt wurde: Wie es auch ausgeht, die SED verliert. „Ist das eigentlich noch unser Ziel, Siege im kalten Krieg zu erringen?“ Er sei dankbar, daß Honecker den Schneid hatte, einer Lösung zuzustimmen. Der andere, Valentin Falin, Gorbatschows engster Berater in deutschlandpolitischen Fragen, bekennt: Wir alle sind schuld an „diesem verdammten kalten Krieg“.

Damit war die Grundlage für das Gespräch, das beide am Sonntag morgen vor der versammelten Berliner Polit-Prominenz führten, hergestellt. Einigkeit dann auch im Essentiellen: Nach 40 Jahren „vertaner Chancen“, so Falin, stehen die Zeichen der Zeit in Europa nun endlich auf Verständigung. Wichtigste Voraussetzung dafür, daß nach dem einmal gemachten Anfang dieser Prozeß auch erfolgreich fortgeführt werden kann - das betonte Falin immer wieder -, ist die Veränderung im Kopf, das neue Denken. Gattungsprobleme statt Blockkonfrontation.

Während der Mann aus Moskau wohl gerne im Bereich des Allgemeinen geblieben wäre, wollte Bahr die Gelegenheit, „daß wir beide hier sitzen“, nicht verstreichen lassen, ohne Moskaus Meinung zur weiteren deutsch-deutschen Entwicklung zu hören. Bahr wiederholte, was er bereits mehrfach betont hatte - er habe kein Interesse an einer Destabilisierung der DDR, die Wiedervereinigungsrhetorik sei kontraproduktiv und die DDR unverzichtbar für den Aufbau des europäischen Hauses. Doch gerade deshalb müsse nun dringend etwas passieren. Die bisherige Politik der kleinen Schritte im Prozeß des „Wandels durch Annäherung“ sei erheblich in Gefahr, weil die Menschen in der DDR sich in einer ganz neuen Qualität dem Regime gegenüber verweigern. Daß das Angebot des DDR-Anwaltes Vogel von den Prager Botschaftsbesetzern aus Mangel an Vertrauen ausgeschlagen wurde, findet Bahr „beunruhigend“. „Was wir nun brauchen, ist eine neue Qualität der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten.“

Bahr skizzierte drei Eckwerte, die als nächste Schritte angestrebt werden müßten: Reise und Niederlassungsfreiheit im Sinne der Wiener Schlußakte, gekoppelt an die sukzessive Aufhebung des Wohlstandsgefälles zwischen beiden Staaten und die Durchsetzung der Meinungsfreiheit in der DDR. „Was die DDR-Presse zur Zeit veranstaltet“, so Bahr, „untergräbt den letzten Rest an Glaubwürdigkeit, den das Regime vielleicht noch hat.“

So konkret wollte Falin lieber nicht werden. Letztlich, so meinte er, sei alles eine Frage der Normalisierung. Doch dahinter stecke ein schwieriger Prozeß. Solange die BRD sich immer noch anmaße, in wichtigen Fragen für die DDR sprechen zu wollen, könne sich die gesamte Tonlage schwerlich ändern.

Jürgen Gottschlich