Alle danken Erich und Hans-Dietrich

■ Reaktionen auf die Massenausreise von DDR-Bürgern / Einheitschor der Erleichterung in der BRD

Nach der Ausreisewelle flutet die Woge der Erleichterung durch die Bänke bundesdeutscher Politiker. Die erste grün -rot-gelb-schwarze Koalition verneigte sich gestern tief. Während in Prag Tausende von DDR-müden Minister Genscher die „bewegendste Stunde“ seiner Amtszeit bescherten, feierten Bleibewillige in Ost-Berlin ein Stadtteilfest. Offiziell, aber ohne Jubiläumsgetue. Kritik an Honeckers „Aufgabe der Rechtsstaatlichkeit“ übte lediglich die DDR-Opposition.

Jubelnde Menschen muß Hans Dietrich Genscher selten erlebt haben. Wie sonst wäre zu erklären, daß der Außenminister seinen Auftritt in der Prager Botschaft als „bewegendste Stunde in meiner politischen Arbeit“ bezeichnete? Es sei richtig gewesen, den Kontakt mit der DDR nicht abzubrechen, sagte Ex-DDR-Bürger Genscher am Sonntag im ARD-Presseclub. „Wer weiterkommen will, muß weiterreden“, auch mit der DDR -Führung.

Ziel sei es, ein Europa zu schaffen, das die Grenzen durchlässiger mache. Die Reformpolitik in Osteuropa zu unterstützen, sei „zuallererst Aufgabe der Bundesrepublik“. An dem europäischen Haus müsse gearbeitet werden, bis „der Eiserne Vorhang rostet“, meinte Genscher, eine Äußerung seines sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse zitierend. Kein Staat solle destabilisiert werden. Es gehe darum, stabile Rahmenbedingungen für einen geordneten Reformprozeß in Osteuropa zu schaffen. „Warum sollen denn in der DDR nicht Reformen wie in Ungarn möglich sein?“ fragte Genscher. Keinen Zweifel ließ er daran, daß Honecker höchstpersönlich die Weichen für die Sonderzüge in die Bundesrepublik gestellt habe. Die Entscheidung „kann nur der erste Mann der DDR getroffen haben“, meinte der erste Liberale aus Bonn.

Während Genscher sich hinsichtlich der hierzulande üblichen Reformforderungen gegenüber dem Nachbarn etwas zurückhielt, holte die Union nicht mal Luft nach dem Zugeständnis der DDR. CDU-Generalsekretär Volker Rühe wertete die Lösung als „diplomatisches Meisterstück der Bundesregierung“. Er wie auch Kanzleramtsminister Seiters (CDU) setzen darauf, daß die DDR nun generell die restriktiven Ausreisebestimmungen ändert. Seiters deutete im ARD-Presseclub vorsichtig die künftige Marschroute an. Gegenüber der DDR sei wirtschafts und finanzpolitisch „vieles möglich“, wenn sich jenseits der Grenze ebenfalls eine Reformpolitik entwickele.

Über den finanziellen Reformpoker schwieg sich Finanzminister und CSU-Chef Theo Waigel noch aus. Er verbeuge sich vor allen, „die den Akt der Menschlichkeit möglich gemacht haben“. Ein wenig kühl sprach SPD -Vorsitzender Hans Jochen Vogel von einem „erfreulichen Sieg der Vernunft“ - nicht ohne Genscher ein verbales Handküßchen zuzuwerfen. Bundeskanzler Kohl, anhaltend mit seiner Prostata beschäftigt, ließ Schlichtes mitteilen. Er sei „ungeheuer erleichtert“ über die gelungene Ausreise.

Als einsame Ruferin in der Wüste betätigte sich das Diakonische Werk der evangelischen Kirche. Es prophezeite vielen ÜbersiedlerInnen „bittere Erfahrungen“. Die meisten jungen DDR-Bürger, so Präsident Neukamm in einem Zeitungsinterview, hätten noch nicht begriffen, daß Freiheiten auch Pflichten nach sich zögen. Er hielt den Emigranten vor: „Geldverdienen und Reisen dürfen ist schön ein Lebensziel kann das nicht sein.“ Einen Lebenssinn könne man auch in der DDR finden. Für die Zukunft der Neuankömmlinge sieht Neukamm schwarz. Wohnungs- und Arbeitssuche gestalte sich für viele „äußerst schwierig“. „Für viele ist die Eingliederung in unsere Gesellschaft daher mehr als mühselig.“

Knud Rasmussen