„...wenn Du zu lieben gelernt“

■ Nur die Heimat der Erinnerung hat eine Zukunft - erklärt der pommersche Graf denen, die auf ihr Recht auf Heimat pochen

Christian Graf von Krockow

Wenn wir uns heute an den Kriegsbeginn vor fünfzig Jahren erinnern, dann ist schnell gesagt - und es wird überall gesagt - wohin dieses Erinnern führen soll, welche Folgerungen zu ziehen sind: Was geschah, darf sich nie wiederholen; es ist unsere Aufgabe, den Frieden zu sichern und hinzuwirken auf Versöhnung.

Aber wie eigentlich macht man das, was bedeutet es konkret, für uns selbst, für mich? Kann es sein, daß dies etwas kostet, sobald wir das Allgemeine und Verbindliche verlassen, daß die Trauer- und die Versöhnungsarbeit billig nicht zu haben ist, sondern Schmerzen bereitet? Ich will im folgenden ganz persönlich berichten, aus den eigenen Erfahrungen. Und weil es sich um das Eigene und Persönliche handelt, um meine östliche Heimat und Herkunft, darum verbietet sich das Verallgemeinern, von Vorschriften nicht zu reden; allenfalls mag es sich um ein Beispiel handeln.

Ich wurde geboren, ich bin aufgewachsen im Kreise Stolp in Hinterpommern, nicht weit von der Grenze zu jenem Gebiet, das damals „der Korridor“ hieß. Am 1.September 1939 flogen Rudel von „Stukas“, Sturzkampfbombern, niedrig über unser Haus. Sie kehrten zurück vom Angriff auf Gdingen oder die Westerplatte bei Danzig, und wir saßen auf dem Dach, ihnen zuzuwinken. Einige der Piloten, so schien es uns jedenfalls, winkten zurück. Es sah alles wie ein Spiel aus, heiter beinahe. Aber wie bald dann die bitteren Tränen: Am 20.September war mein ältester Bruder als junger Leutnant vor Warschau gefallen; mein zweiter Bruder folgte schnell ihm nach.

Fünf Jahre später, in einer kälteklirrenden Januarnacht 1945, verläßt der Siebzehnjährige Stolp - nun selbst als Soldat und zu Pferde, dem anrückenden Feind entgegen. Bei Pyritz, einer pommerschen Kleinstadt, beginnt der Einsatz: zwei Schwadronnen gegen ein russisches Panzerregiment mit aufgesessenen Scharfschützen. Die Siebzehnjährigen kämpfen und sterben, wie man es sie gelehrt hat. Irgendwann, in einer Atempause, das Aufblitzen einer Erinnerung: Kehrt der Anfang zurück, mit umgekehrten Vorzeichen, gab es da nicht diese Sage vom September '39, von polnischer Kavallerie gegen deutsche Panzer? Schließlich - denn die Pferde sind wertvoll, nicht die Menschen - wird eine Verlegung nach Westen zur Neuaufstellung befohlen.

Abermals der Ritt in die Dunkelheit, der letzte im östlichen Pommern. Jeder, der noch dabei ist, führt zwei Pferde mit leerem Sattel neben sich. Wer sich zurückwendet, sieht den Himmel gerötet: Dörfer als Fackeln. „Nicht umdrehen!“ sagt jemand. „Weiter!“ Die Oderbrücke rückt heran. Flugzeuge, unsichtbar, kreisen und suchen ihr Ziel. Im fahlen Schein einer Leuchtbombe erkennt man den Tod: Leiber von Tieren und Menschen, hingeschmettert, aufgerissen. Und Trümmer überall, Trümmer von Wagen, hastig zur Seite geräumt. Dann fällt wieder der Vorhang der Nacht.

Wo nur sah man das schon einmal? Ja, damals, als es begann, in Bildern der Wochenschau aus Polen, September '39, als der höllische Sturz der Bomben über die Flüchtenden gekommen war. Und auf einmal auch die Stimme im Ohr, der Kommentar zu den Bildern, im Triumph, im Frevel herausgeschrien:

„Mit Mann und Roß und Wagen

hat sie der Herr geschlagen!“

Diese Bilder von Menschen auf der Flucht vor den Furien des Krieges, von Vernichtung und Tod: Wer ihnen nicht bloß im Kino oder im Fernsehen begegnet ist, sondern leibhaftig, den lassen sie so leicht nicht mehr los, nicht einmal im Schlaf. Oder gerade dort nicht: In Träumen, Alpträumen kehren sie zurück, wieder und wieder. Für mich jedenfalls hat es Jahre, viele Jahre gedauert, bis sie zumindest seltener wurden.

Im wachsenden Abstand aber, im Älterwerden traten andere an ihre Stelle, seltsam genug: Bilder von der Kindheit, aus der pommerschen Heimat. Doch auch dies war ja eine Folge des Krieges, für mich wie für Millionen von Menschen: der Verlust von Heimat. Irgendwann ist mir die Szene wieder eingefallen, die bereits aus dem Anfang stammt, aus dem Oktober 1939. Es war meine erste öffentliche Schulstunde denn bis dahin hatte ich Privatunterricht gehabt -, in Misdroy, einem idyllischen Badeort an der Ostsee, in der „Baltenschule“, die so hieß, weil sie nach dem Ersten Weltkrieg von Flüchtlingen aus dem Baltikum gegründet worden war. Angespannte Erwartung: Wie wird das nun sein? Die Lehrerin tritt herein, ein ältliches, etwas verwachsenes, sackartig gewandetes Fräulein. Sie möchte reden - und kann nicht, weil ihr die Tränen kommen. Es dauert Minuten, bis sie unter Schluchzen, unter immer mehr Tränen herausbringen kann, was sie sagen will:

„700 Jahre haben wir in Riga, in Mitau gelebt! Und nun müssen alle fort... Die Heimat - die Heimat ist verloren.“ Es handelt sich um eine Furcht des deutsch-sowjetischen Diktatorenpakts, der die baltischen Staaten an die Sowjetunion preisgab. Bald kamen in Swinemünde Schiffe mit der Menschenfracht an, für die in Misdroy Hotels beschlagnahmt wurden, bis zum Weiterversand in das Gebiet, das jetzt „Warthegau“ hieß. Dort mußten dann andere den Platz für sie räumen, die Unerwünschten, die „Untermenschen“...

Flucht und Vertreibung also schon zum Auftakt des Kriegs, Schiffe mit der Menschenfracht auf der Ostsee, verlorene Heimat: Manchmal frage ich mich, ob man die Flammenschrift an der Wand nicht hätte erkennen sollen, nicht lesen müssen, so jung man auch war. Oder auf den Singsang der Kinder hören, der von weit her stammte, um dreihundert Jahre zurück:

„Maikäfer, flieg!

Dein Vater ist im Krieg.

Deine Mutter ist in Pommernland,

Pommernland ist abgebrannt.“

Vertraut, verweht - und erfüllt, als sei's die Weissagung selber. Die Maikäfer flogen fort und kehrten nicht wieder. Die Väter, die Brüder und Söhne blieben im Krieg. Und Pommernland ist nicht bloß abgebrannt, sondern für immer dahin. Es ist: die verlorene Heimat.

1945 allerdings und in den Nachkriegsjahren habe ich daran kaum gedacht. Es war ja nicht nur ein Ende damals, sondern auch ein Neuanfang - und für den, der jung war, sogar eine Chance zur Zukunft. Nur eben: Mit dem wachsenden Abstand und im Älterwerden kehrte das Verlorene zurück - und damit der Schmerz um das Verlorene. Daß das kein einmaliger Vorgang war oder ist, sondern womöglich ein typischer, hat mir ein Gedicht gesagt, das schon vor langer, langer Zeit von einem Flüchtling in Frankreich geschrieben wurde, einem Flüchtling aus Frankreich, der zum deutschen Dichter wurde, Adelbert von Chamisso. Es beginnt mit den Zeilen:

Ich träum‘ als Kind mich zurücke

Und schüttle mein greises Haupt;

Wie sucht ihr mich heim, ihr Bilder,

Die lang‘ ich vergessen geglaubt?“

Diese Heimsuchung läßt sich wohl nur daher erklären, daß Heimat mit der Kindheit zu tun hat und daß das Früheste im Erinnern auch das Tiefste und Dauerhafteste bleibt - als etwas, das vielleicht überlagert, aber nie wirklich getilgt werden kann. Von Begriffen, von Abstraktionen nicht unverstellt, nimmt das Kind mit allen seinen Sinnen die Welt in sich auf, in die es hineinwächst.

Mit allen seinen Sinnen. Das heißt nicht nur mit den Augen, sondern auch oder erst recht zum Beispiel mit der Nase. Ja, Heimat riecht: für den Jungen aus Hinterpommern nach den herbstlichen Kartoffelfeuern, nach fangfrisch geräucherten Flundern in Stolpmünde, nach Modder und Entengrütze am Dorfteich und vielem, vielem noch mehr. Wahrscheinlich, weil wir in einer Welt der Abbilder leben, die sich immerfort überstürzen und verdrängen, sind solche Gerüche zuverlässiger als alles andere; ein Anhauch genügt, um frisch wie am ersten Tag wieder heraufzuführen, was einmal war. Heimat, so könnte man sagen, ist das Gegenteil alles Abstrakten; sie ist das ganze Konkrete, sehr Persönliche, der Inbegriff der Vertrautheit, die dem Kinde zuwächst.

Darum läßt sie sich auch später nie mehr nachholen. Zwar lebe ich seit 42 Jahren in Göttingen, bin da zu Hause und fühle mich wohl. Dennoch bleibt etwas Zufälliges, eine Spur von Fremdheit; es fehlt die Sinnesdimension der Kindheit. Darum liegt meine Heimat in Hinterpommern und nirgendwo sonst; darum läßt sich gegen die Heimsuchung durch die verlorene Heimat wenig oder nichts ausrichten.

Mit dieser Heimsuchung kann man nun, so scheint mir, auf verschiedene, auf ganz gegensätzliche Weise umgehen und sich einrichten. Entweder liegt der Akzent auf dem Verlust, auf einer Art von Verwunderung, einer Erstarrung in die Bitterkeit, die nachrechnet und aufrechnet, ohne je an ein Ende zu kommen. Oder der Akzent liegt auf der Heimat, die der Erinnerung bleibt, unverlierbar bis ins Alter. Und auf paardoxe Weise bleibt sie gerade als die verlorene, wie sie einmal war; die Triumphe unseres Fortschritts entstellen sie nicht. Noch immer ist der Dorfladen kein Supermarkt, sondern sein Schild sagt: „Emil Priedigkeit - Kolonialwaren„; keine Folienverpackung hindert das Düftegemisch aus Leder, Heringslake und gebrannten Mandeln; keine Waschautomaten oder Mähdrescher mildern die Härte der Arbeit, niemand vermarktet das Erntefest oder den Weihnachtsschimmel zur Folklore.

Freilich muß man sich gegen die Neigung des Erinnerns wappnen, zu glätten und zu vergolden, so als sei der Verlust der Heimat eine biblische Vertreibung aus dem Garten Eden gewesen. Aber schier unglaublich ist es, was die Erinnerung alles hergibt, wenn man bei der Suche in ihren Schächten nur genau und geduldig beharrt.

Es mag nun das Privileg eines Schriftstellers sein, daß er von seiner Schatzsuche erzählen kann; vielleicht hilft er sogar dazu, daß sich auch für andere und für die Nachkommenden eine verlorene Heimat in die bewahrte verwandelt. Denn, um nur zwei große Beispiele zu nennen: Wir wissen noch etwas von altmärkischer Landschaft und Lebenswelt - dank Theodor Fontane. Und wir wissen noch etwas vom alten, hanseatischen Lübeck - dank Thomas MannsBuddenbrooks. Doch für die, denen die Vertreibung zum Schicksal geworden ist, hilft das Erinnern zum eigenen Erinnern. Aberhunderte von Briefen haben mir davon berichtet - oft schüchtern beginnend: „Verzeihen Sie die schlechte Schrift, ich bin eine alte Frau...“ - und dann folgen zwei oder zwanzig Seiten voll der Erinnerungen, gestochen scharf in Sütterlin.

Entscheidend für unser Thema ist indessen, daß die Erinnerungsarbeit, aus der Trauer erwachsen, dazu ermutigt und befreit, einen zweiten, den entscheidenden Schritt zu wagen: dazu, die Reise in die verlorene Heimat nicht nur in der Zeit, sondern leibhaftig, im Raum anzutreten. Natürlich ist solch eine Reise schwer mit Gefühlen befrachtet, mit zwiespältigen, widerstreitenden zumal. Zwar gibt es ein Glück des Wiederfindens: Die Natur, die Landschaft blieb bewahrt, besser sogar als in der Raserei unseres Fortschritts, im Triumph unseres Wohlstands. Noch immer gibt es statt Betonpisten die alten Chausseen, von Jahrhundertbäumen zu Torbogen aus Schatten und Licht überwölbt, mit betörendem Lindenduft in der Frühe wie am Abend; noch immer sind hier Störche zu Hause.

Aber wie ist es dann, wenn man sich dem Ort nähert, an dem einmal das Haus stand, in dem man geboren wurde und aufwuchs? Gleich nach ihrem Einmarsch im März 1945 gossen die Sieger Benzinfässer aus und zündeten es an; niemand weiß zu sagen, warum. Inzwischen hat die Natur ihr Werk getan. Kraut und Gestrüpp überwuchern gnädig den Schutt; sogar Bäume sind schon herangewachsen zu einem dichten und dunklen Dach. Bloß bizarre Zeichen sind geblieben: vermooste Säulen, die Schale des Springbrunnens, laubgefüllt. Und über halb verschüttetem Kellergewölbe eine Treppe ins Nichts, als handle es sich um die Ruinen eines Mayatempels in den Urwäldern Guatemalas. Lichtete man bloß um ein weniges das Gestrüpp und stellte Lampen auf, so ließe sich eine nächtliche Pantomime, ein Schattenschauspiel, hier aufführen, vielleicht unter dem Titel: Sic transit gloria mundi - So vergeht der Ruhm der Welt.

Und dann der Gang zu den Gräbern, zum Dorffriedhof bei Rowen. Er gleicht einer Wildnis. Unkraut, Disteln und Dornengerank; die Grabsteine umgestürzt, überwuchert, verschwunden. Am Platz, an dem die Großeltern und der Vater begraben wurden, steht noch das große Kreuz aus Granit mit dem eingemeißelten Spruch: „Fürchte Dich nicht, glaube nur.“ Aber die Namen sind getilgt. Ähnlich etwas weiter beim alten Erbbegräbnis. Die Namenstafeln wurden abgeschlagen, in den aufgebrochenen Gewölben erkennt man zwischen Trümmergestein noch Reste von Särgen.

Widerstreitende Gefühle. Gewiß, die Überlegung sagt, daß Gräber und Friedhöfe verfallen, wenn sie nicht mehr gepflegt werden. Die Natur erweist ihre Macht, sobald die Menschen fortgehen. Und sogar hierzulande werden Grabstellen nach 25 oder 30 Jahren aufgelassen und beseitigt. Aber so, in dieser Form, schmerzt es doch.

Kinderstimmen rufen in die Gegenwart zurück. Unbefangen kommen sie heran, diese Kinder aus Rowno, das einmal Rowen hieß, mit dem jüngsten, das sie hüten sollen, auf dem Arm. Sie sehen aus, wie die Dorfkinder hier immer schon aussahen, strubbelhaarig und rotznasig. Keine Spur von Scheu vor dem Fremden, bloß die lachlustige Neugier, wie sie Kindern nun einmal gehört. Doch wie denn sonst? Hier kennen sie sich aus, hier sind sie geboren, wie ihre Eltern schon und manchmal bereits die Großeltern. Dies ist: ihre Hemat.

Oder etwa nicht? Wie soll ich mich dazu stellen? Soll ich sie heimlich-unheimlich zum Teufel wünschen, wo immer der sein mag, weil diesmeine Heimat ist, in der sie keinen Paltz haben?

Hier und jetzt, in solch einem Augenblick, muß sich entscheiden, was wir eigentlich meinen, wenn wir „Heimat“ sagen. Ist sie etwas Abstraktes, eine politische Kampfparole, auf deren Grund die Vergeltung brütet? Oder das Konkrete der Kindheit? Aber wenn sie das wirklich ist: Was nehmen mir dann diese Kinder aus Rowno? Könnte das Gemeinsame nicht zum Eckstein der Versöhnung werden?

In einem anderen pommerschen Dorf geschah es vor Jahren, daß die Orgel ihren Dienst versagte. Die ehemaligen, die deutschen Bewohner sammelten im Westen Geld, um sie wiederherzustellen. Ihre Wiedereinweihung wurde dann mit einem gemeinsamen, einem im besten Sinne ökumenischen Gottesdienst festlich begangen. Wäre dies nicht ein Beispiel, ein Weg, der in die Zukunft weist, um uns miteinander, Deutsche wie Polen, vor der Wiederkehr des Unheils zu bewahren? In ihrem großen Gedicht Heimat“ sagt Marie Luise Kaschnitz:

Auf die Heimat, an die ich denke, können keine Grundbriefe ausgestellt werden, kein

Übereignungen, keine Erbscheine.

Rache wird nicht geschworen für diese unsere Heimat

Denn sie kann nicht erobert werden,

Niemals wird sie uns völlig verloren gehen.

Wer von seiner Heimat redet, weckt viele Erinnerung

Alle, die ihm zuhören, sehen die eigenen Bilder

Seine Sehnsucht ist der Stab, der den Quell aus den Felsherzen schlägt

Sein Heimweh bahnt den Weg durch das Meer des Vergessens

Noch eine Geschichte: 1984 besuchte ich ein pommersches Dorf -früher Arnshagen, heute Charnowo-, im strikten Auftrag meiner Putzfrau. Dort bekam ich von der alten polnischen Bäuerin zu hören: „Wann kommt meine liebe Freundin Frieda Albrecht wieder zu Besuch? Wir warten auf sie, ihr Zimmer steht bereit, bitte bestellen Sie ihr das!“ Gemeint war: die deutsche Vorbesitzerin dieses Hofes. Die Polin sagte auch, voller Stolz “'Unsere‘ Deutsche ist als letzte gegangen und als erste kam sie zurück.“ Als Frieda Albrecht dann im Januar 1986 gestorben war, schrieb sie mir: „Wir weinen um unsere Schwester.“

Das mag eine besondere Geschichte sein, aber erst Tausende, dann Zehntausende, ja Hunderttausende haben Erfahrungen gemacht, die in die gleiche Richtung weisen. Der Wandel, der sich zwischen Polen und Deutschen immerhin anbahnte, hat nicht nur, aber auch und sogar wesentlich mit Reiseerfahrungen zu tun, mit dem „Heimwehtourismus“, der den abschätzigen Unterton durchaus nicht verdient, der ihm manchmal beigelegt wird. Mit Zögern und Zagen klopfte man an die Tür, hinter der man einmal zu Hause war. Und die Tür wurde aufgetan. So sind Bekanntschaften, manchmal Freundschaften entstanden; Briefe und Einladungen gehen hin und her, Pakete werden geschickt.

Das Bedeutsame an solchen Reisen in die verlorene Heimat bleibt wohl, daß sie tatsächlich ins Konkrete führen, ganz anders als der Pauschal- und Massentourismus an die Sonnenstrände des Mittelmeeres. Nicht „die“ Deutschen sind „den“ Polen begegnet oder haben sie verfehlt, sondern Menschen haben Menschen gefunden. Und hier wie überall gilt, daß sich am Abstand der konkreten Erfahrung vom Vorurteil und Klischee alles entscheidet. Erst allmählich habe ich herausgefunden, daß das sogar für die Leserbriefe gilt, die mich erreichen. Bei den ablehnenden und den zustimmenden kommt jeweils ein anderer Begriff von Heimat ins Spiel. Die einen - eine Minderheit - haben den abstrakten, den politischen Kampfbegriff, aus dem zugleich der Alleinvertretungsanspruch hervorwächst. Da bekomme ich dann zu lesen:

„Ein Deutscher würde solch eine Aussage nicht machen! Wenn man jedoch wie Sie und Ihre Ahnen aus dem kaschubischen Bereich stammt, dort ein König im Kleinen war, dann kann man verstehen, daß Sie sich nach Polen hingezogen fühlen... Von den Vertreibern ist Ihnen eine besondere Auszeichnung gewiß und ein gutes Geschäft ist es wohl auch geworden, dieses Buch nun schon in der 6.Auflage herauszubringen. Der 'Spiegel‘ hat Ihnen hierbei geholfen, indem er das Buch lange Zeit auf der Bestsellerliste erscheinen ließ, in der Absicht, die Ansichten eines 'deutschen‘ Grafen zu diesem heißen Thema zu verbreiten. Auf dieser Ebene finden Sie sicher noch einige Helfer. Unser Wahlspruch ist und bleibt: 'Noch ist Pommern nicht verloren!'“

Die anderen - die große Mehrheit - berichten sehr persönlich, sie schreiben: „Ich meine, denn ich habe erlebt...“ Auch dafür ein Beispiel: „Auf den Bildband freue ich mich. Ein Bild - da nur gesehen - wird leider fehlen. Das war im Juli 1939 an einem sehr heißen Mittag. Ich stand an der Straße von Boschpol. Auf einem Motorrad fuhren zwei Zollbeamte von der Grenze kommend in Richtung Lauenburg. Der Sozius hielt eine Leine in den Händen, mit der er einen an den Händen gefesselten Menschen hinter sich herzerrte oder wenn gefallen - schleifte. Mein Anruf wurde lediglich mit einem kurzen: 'Das ist ein Polack!‘ beantwortet. Dieses Bild überschattet alle Bilder einer auch von mir geliebten Landschaft.“

Muß man dieses Beispiel extrem nennen? Vielleicht. Aber wer solch ein Bild je gesehen, wer es bewahrt statt verdrängt hat, der weiß, was die Feind-Bilder anrichten, hinter denen der Mensch verschwindet und bloß noch durch den Kot geschleift wird. Ach, in welch einen Abgrund des Unheils haben diese Abstraktionen, diese Feindbilder uns verführt, welche Wunden gibt es noch hüben und drüben, kaum vernarbt, wie leicht kann ein einziges unbedachtes Wort sie wieder aufreißen, wie weit und wie schmal bleibt der Weg zur Versöhnung!

Am Ende ihres Heimat-Gedichts sagt Marie Luise Kaschnitz:

Und es rauschen Dir wieder die Flötenrohre der Brunnen

Und das grünweiße Wasser rieselt Dir über die Pulse

Und es schlägt Dir das Herz im Sensendengeln, im Heugras

Uns es steht überm Schneefeld in goldenen Waffen Orion

Und es duftet nach Brot und nach Wein

Aber wann denn, wann denn?

Morgen, - wenn Du zu lieben gelernt.

Das allerdings ist die Frage: ob wir Liebe meinen oder den Haß. Wenn wir unsere verlorene Heimat wirklich lieben, wenn wir sie den Enkeln bewahren und nahebringen möchten - und wenn wir auch die Enkel genug lieben, um sie, soweit es an uns liegt, vor der Wiederkehr des Unheils hüten zu wollen, dann gibt es nur einen Weg, diesen einzigen: Wir müssen erkennen, daß Heimat dem Menschen gehört, nicht dem Klischee - und daß nur unter den Menschen das sein kann, was Versöhnung heißt.