Verfassungsschutz löschte eigene Datenspur

Erster Einzelfall-Untersuchungsbericht über die Skandale beim Berliner Verfassungsschutz enthüllt, daß es dort eine „amtsspezifische Wahrheit“ gibt / Angaben über den Journalisten und ehemaligen taz-Redakteur Sontheimer immer noch im Schnüffler-Archiv  ■  Von Jürgen Gottschlich

Berlin (taz) - Der Berliner Verfassungsschutz (VS) erklärt Vorgänge über Einzelpersonen schon dann für amtlich vernichtet, wenn lediglich die Computerhinweise gelöscht sind, an welcher Stelle Informationen über eine bespitzelte Person zu finden sind. Vernichtet wird also nur die Spur der Daten, nicht die Daten selbst. Diese offenbar gängige Praxis geht jetzt aus dem Einzelbericht über den ehemaligen taz -Journalisten Michael Sontheimer hervor, den die Projektgruppe Verfassungsschutz im Auftrag des Berliner Innensenators erarbeitet hat. Kernsatz des Prüfberichts, der bisher unter Verschluß gehalten wurde und der taz jetzt vorliegt: Die vom Berliner Landesamt für Verfassungsschutz öffentlich aufgestellte Behauptung, der „Vorgang Michael Sontheimer“ sei vernichtet, „ist eine 'amtsspezifische Wahrheit‘, die erkennbar nicht in vollem Umfang den Kern der Sache trifft“.

Der jetzt bekannt gewordene Einzelbericht über die Bespitzelung des Journalisten Sontheimer ist einer von bisher fünf Berichten über „Fehlentwicklungen“ im Berliner Landesamt für Verfassungsschutz, die demnächst in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuß diskutiert werden sollen. Öffentlich geworden war bisher im Juli dieses Jahres lediglich der sogenannte Leitbericht der Kommission, nicht jedoch die Ergebnisse der fünf Einzelberichte. Der jetzt vorliegende Sontheimer-Bericht gibt tiefen Einblick in die Datenverarbeitung des Landesamtes. In einer akribischen Fallstudie zeigt die Projektgruppe unter der Leitung des Staatsanwalts Fätkinheuer auf, wie willkürlich der VS mit personenbezogenen Daten umgeht. Dabei vernichtete der VS auch Hinweise, die Auskunft darüber geben, an wen er auf illegale Weise belastende Informationen an Dritte weitergegeben hat.

Hintergrund des „Vorgangs Sontheimer“ sind zwei Ereignisse, die seinerzeit in Berlin für erhebliche Aufregung sorgten. Anfang 1986 - der für die CDU überaus mißliche Bauskandal produzierte täglich neue Peinlichkeiten in der Öffentlichkeit - setzte der damalige Fraktionsvorsitzende der Union, Buwitt, zu einem Befreiungsschlag an. Der Enthüllungsjournalist Sontheimer, so Buwitt, sei ja schon länger als notorischer linksradikaler Verfassungsfeind bekannt, seine Recherche in der 'Zeit‘ über den Bauskandal schon deshalb ohne Wert. Doch dieser Schuß ging nach hinten los, denn Buwitt mußte sich nun fragen lassen, aus welch trüben Quellen er eigentlich seine Erkenntnisse über Sontheimer geschöpft hat. Der Verdacht, hier habe sich die Regierungspartei gezielt beim VS bedient, war nicht von der Hand zu weisen und sollte durch die Parlamentarische Kontrollkommission (PKK) geklärt werden. Doch siehe da, nachdem die PKK offiziell den Wunsch geäußert hatte, die Sontheimer-Akte vom VS vorgelegt zu bekommen, gab Verfassungschef Wagner in geheimer Sitzung zu Protokoll, die Unterlagen seien just fristgemäß gelöscht worden. Den düpierten Abgeordneten blieb nur die Entrüstung über den merkwürdigen Löschungszeitpunkt. Echter Ärger machte sich dann breit, als plötzlich in der Öffentlichkeit Teile der vermeintlich vernichteten Akte auftauchten, die bewiesen, daß der VS schlicht gelogen hatte - bzw. wie die neue Sprachregelung heißt - eben eine „amtsspezifische Wahrheit“ verbreitet hatte.

Tatsächlich, so fanden die vom rot-grünen Senat bestellten Rechercheure heraus, hat das Landesamt, nachdem ruchbar wurde, daß sich das Parlament für den Vorgang interessieren würde, etwas vernichtet: die Eintragung im Geheimdienstcomputer Nadis, die zentrale computergestützte Fundstellendatei der Geheimdienste. Über den Nadis-Eintrag hätte der Datenschutzbeauftragte feststellen können, ob und wo in der Schnüffelbehörde Unterlagen über den Journalisten Sontheimer vorliegen. Nach der Nadis-Löschung vernichtete die Abteilung IV A5 (Neue Linke) auf Anweisung von oben auch die Hinweise in der Personenzentraldatei und die sogenannte Personenarbeitskarteikarte über Sontheimer- übrig blieben allerdings sämtliche über den Journalisten gesammelten Unterlagen, hübsch versteckt in einer mehrbändigen „Sachakte -taz“. Da dies von außen nicht zu überprüfen war, konnte das Amt lange unentdeckt schwindeln, der Vorgang sei vernichtet.

In der Bewertung der prüfenden Projektgruppe liest sich diese offenbar ganz übliche Praxis folgendermaßen: „Das LfV hat sich für bestimmte, allgemeingültige Begriffe spezielle eigene Wertungen zugelegt, die mit den allgemeingültigen Begriffen nicht übereinstimmen:

-Vörgänge gelten als vernichtet, wenn die Suchkriterien

in Nadis fehlen. Tatsächlich aber sind die Vorgänge in sogenannten Sachakten vorhanden.

-Wenn über Personen keine Personalakten bestehen, wird

die Auskunft gegeben, es gäbe keine personenrelevanten Daten im Amt. Tatsächlich enthalten aber auch die Sachakten eine Fülle von Personaldaten. Das Sammeln von personenbezogenem Material gilt nicht als Beobachtung. Das LfV hat nach außen immer zum Ausdruck gebracht, daß Michael Sontheimer nicht beobachtet wurde. Allein die sogenannte Verkartung Sontheimers (Aufnahme in das Nadis-System) und die gezielte Sammlung einer Vielzahl von Unterlagen kommt aber einer Beobachtung nahe. Es sind auch gezielt personenbezogene Unterlagen gesammelt worden. Der Hinweis darauf, daß zu Sontheimer nicht gesammelt wurde, ist daher falsch. Vorgänge, die bei einer Anfrage noch bestanden, werden 'vernichtet‘.“

Die Kommission empfiehlt dem Innensenator, mit diesen orwellschen Sprachschöpfungen umgehend aufzuräumen - der Bürger habe schließlich einen Anspruch darauf, daß Vorgänge, die als vernichtet reklamiert werden, auch tatsächlich gänzlich beseitigt werden. Als skandalös erscheint der Kommission darüber hinaus der Umgang des Amtes mit der damaligen Parlamentarischen Kontrollkommission. Denn, der einzige Originalsachvorgang, der wirklich vernichtet wurde, ist der Vermerk eines Sachbearbeiters, den dieser anfertigte, nachdem er auf Veranlassung der Amtsspitze Anfang 1986 Material über Sontheimer zusammengestellt hatte. Der Auftrag soll „im Zusammenhang mit Äußerungen Sontheimers über Kewenig“ (dem damaligen CDU-Innensenator) in der 'Zeit‘ gestanden haben. „Es fällt daher schwer“, so die Kommission, „an dieser Stelle eine zielgerichtete Absicht auszuschließen.“