„Zu dem eitlen Club paß‘ ich sowieso nicht“

■ 37. Mitglied im Culture Club: Gustav Gisiger, Schweizer, freier Regisseur in Bremen / Neues Projekt: Vulkan, verschiffschaukelt

Einer Papierkaskade sitzen wir zu Füßen, immerhin auf zwei freien Stühlen, das ist Gustav Gisigers Arbeitszimmer. Da fängt man am besten von vorne an. Mit Zuhören, mit Erzählen. So viele Geschichten wie zwei Stunden haben. Zum Beispiel die, wie Gustav Gisiger an der Zürcher Schauspielschule vorsprechen mußte: Er und deklamieren! Zum Beispiel den Meldeläufer aus Shakespeares „Kaufmann von Venedig“, oder den „Nasenmonolog“ von Cyrano de Bergerac. Okay, die Nase hat er dabei, aber in Zürich ist grade Guggefasnacht, wer lernt da auswendig? Vorlesen, schlägt er den Prüfern vor, die winken ab. Mit Stühlen improvisieren, okay, Stuhl als Tier oder Mensch, da kann man was machen. Und Atmen und Schreien, kein Problem. Gustav Gisiger schreit vor, kein Zweifel, das muß sie überzeugt haben! Nein. Erst als er seine mitgebrachten Experimental-Filme bis aufs

Messer verteidigt, ist er angenommen.

Apropos Filme, das hat er ja ganz ursprünglich gemacht. Da gibt es die Geschichte: Gustav Gisiger als Stagiere bei einem Schweizer Film, also Mädchen für alles, also Klappe, Statistenführen, Christof Wackernagel - noch Schauspieler, später Terrorist - Berndeutschbeibringen. Und mit Ami -Schlitten durch's Emmental.

Zurück bzw. vor: Er hat auf der Schauspielschule, Regieklasse, was gelernt und macht Straßentheater, über „Straßenmassaker“, recherchiert Hauptverletzungen und „haut mit Sado-Schwestern auf die Kacke“ auf

Pferdewagen-Klappbühnen.

Gustav Gisiger ist so etwas Ähnliches wie ein unmaskierter Theatermann, mit Anleihe bei dem, was man früher ein „Urvieh“ nannte. Raumgreifend, bodenständig unbändig, mit schwyzerdütscher Rachengold-Stimme, die Bewegungen zupackend und zum Ankucken.

Und wie kommt ein Schweizer nach Bremen? Nein, noch kommt er ja nicht nach Bremen, erst noch Regie-Assistenzen am Neumarkt-Theater in Zürich, linkes Theater mit Schauspielerrechten. Und dann Mannheim, ogottogott, Vorstadthäuschen mit Schäferhunden, Gasthäuser zum fröhlichen Wiederaufbau oder zum

Glückauf, zum Kotzen, Heulen auf der Straße. Da ist es gut, daß man fast nur im Theater lebt, in der Kantine, zwischen Pförtnern, unter der Käseglocke.

So, und jetzt kommt er erst nach Bremen, es ist Ära Wüstenhöfer (Theater-Jargon „Sparno“, von Spar-Arno) und Steckel, Action im Theater, Diskussionen, Kräche, er immer auf Seiten der Schauspieler. Und Bremen als solches? Man sitzt bis 3 Uhr morgens im Opatja: „Ich hab‘ drei Jahre lang nicht gewußt, wo der Hafen ist.“ Und wo überhaupt das Meer ist. Und möglicherweise dreistöckige Häuser. Eine Art Enttäuschung? Nee, auf der Bühne ist was los: „Wir benutzten

zum ersten Mal ganz anderes Material auf der Bühne: Bausteine, Glas, Zement, Sand. Aufbauzeiten vier oder sechs Stunden lang“. Was war die Technik sauer!

Und dann ist die Ära Staeckel plötzlich vorbei, aus, das Theater löst sich auf, Gustav Gisiger bleibt hier. Hat auch keine so rechte Lust mehr auf's Staatstheater, Wasserkopf, Spielplan, 140.000 DM dafür, daß ein Feuerwehrmann und ein Wassereimer zur Vorstellung kommen. Über's Aussteigen hat er dann Peter Abromeit kennengelernt, mit dem er die letzten Jahre in Bremen Theater gemacht hat, wie er es sich vorstellt: Theater rausholen an die Brandpunkte der Geschichte, Stadt-Inszenierungen. Auf dem Marktplatz hat er zusammen mit anderen eine Bücherverbrennung inszeniert, als Emigranten verkleidete Grüppchen gingen durch die Stadt und lasen aus Büchern vor, bis zum großen Emigrantenzug zum Bahnhof.

Er hat weitere Orte gesucht, die geschichtsträchtig sind, und hat den „Vulkan“ gefunden. Dort soll sein großes Projekt starten, nächstes Jahr, und als Vorprojekt zum Projekt der 90er Jahre gibt es in diesen Tagen in Vegesack und auf dem Gelände des Vulkan eine erste „Kost-Probe“ (s. Fototip S.20). Peter Abromeit hat dazu die Texte geschrieben, ein ehrgeiziges Projekt: Die Geschichte des Vulkan mit den Mitteln einer Theater-Performance. Gustav Gisiger erzählt von Vulcanus, dem Sohn von Zeus und Hera, „vom Olymp runtergeschmissen“, ein untergeschobenes Balg. Urmutter Gaia übernimmt. Eines Tages hält Klein-Vulcanus die

Hand ins Feuer und schreit, und wenn er so geschrieen hat wie Gustav Gisiger, müssen der Urmutter auch die Ohren abgefallen sein. Jedenfalls lernt er, mit dem Feuer umzugehen und zu schmelzen und baut Schwerter für die Götter.

In der Performance werden auch die Götter auftauchen, aber nicht als Personen, sondern als Prinzipien. Überhaupt ein Wahnsinn: Hinter die Strukturen dieses Molochs zu kommen, wie ein Schiff entsteht, da wird in der Riesen-Halle das Arbeitsgerät - Kräne, Laufkatzen - miteinbezogen, „echte“ Arbeiter sollen dabeisein, Licht und Projektionen werden das Theater auf die Wirklichkeitsbühne bringen. Bis 1990 muß er noch 70-100 000 DM einsammeln bzw. hinterherlaufen, und seine 2-jährige ABM-Stelle für's Projekt läuft aus. Die Geldgeber haben nicht so viel Fantasie wie Gustav Gisiger. Claudia Kohlhas