DIE ERHÄNGTE GESCHICHTE

■ Blick zurück im Zorn oder: Wie Berliner Gedenktafeln die Vergangenheit erledigen

Kennen Sie Kunth? Nach Auffassung des Rates der Westberliner Bezirksbürgermeister und seiner kulturhistorisch bewanderten Berater ist das vermutlich nicht der Fall. Eine klassische Konstellation also: Es muß eine Gedenktafel her! Ob er will oder nicht, der aufmerksame Spaziergänger wird spät, aber schlagartig auf seine Bildungslücken aufmerksam gemacht seit dem Frühjahr dieses Jahres nämlich in der Tempelhofer Kaiserin-Augusta-Straße 19. Dort, wo sich heute die Askanische Oberschule befindet, buddelte 1865 ein Geologe namens Albrecht K. in einer märkischen Sandgrube und fand ein nach ihm benanntes Leitfossil, die Schnecke „Paludium diluviana Kunth“. Der durchgebildete Lateiner erkennt sogleich: Das hat was mit Eiszeiten zu tun, und deren Erforschung hat Kunth, so die Tafel, wesentlich gefördert. Irgendwie muß der Mann dann wohl vergessen worden sein. Früh erblüht, gelang ihm mit 23 der große Wurf, sechs Jahre später war er tot und in der Versenkung der Wissenschaftsgeschichte verschwunden.

Die Erinnerungstafel für den Geologen ist ein Baustein des „Berliner Gedenktafelprogramms“, aufgelegt im Zusammenhang mit der 750-Jahr-Feier und finanziert von der Berliner Sparkasse. Dessen Initiatoren mögen die politische Klemme bemerkt haben, in die sie sich hineinmanövrieren. Und die wird auch durch die bestehende ästhetische Gestaltung der Rechtecke seitens der Preußischen Porzellanmanufaktur nicht beseitigt. Die Lösung des Problems, aus der schier unübersehbaren Menge von potentiellen Ehrenmännern vorzugsweise „die richtigen“ herauszufiltern, gerät, sofern überhaupt ernsthaft angegangen, in einer dubiosen Weise pluralistisch: Am Adolf-Scheidt-Platz 3, ebenfalls in Tempelhof, wird an einem Wohnhaus des Gewerkschafters, Sozialdemokraten und Sachriftstellers Lothar Erdmann gedacht, der hier von 1925 bis 1939 lebte. Nach Auskunft der Gedenktafel „starb er im KZ Sachsenhausen nach brutalen Mißhandlungen“, was so gut gemeint wie daneben ist. Wer war dieser Mann? Lothar Erdmann wird zu Beginn des Zweiten Weltkrieges zusammen mit über 100 anderen Funktionären der liquidierten Arbeiterbewegung in Berlin verhaftet, weil er sich unter anderem geweigert hatte, für NS-Zeitschriften zu arbeiten. Im Konzentrationslager wird er fast zu Tode geprügelt, weil er gegen die Mißhandlung eines Mithäftlings protestiert. Am 18.September 1939 erliegt er nach weiteren Quälereien seinen Verletzungen.

Anders als bei Kunth, fällt es hier sehr viel schwerer, die Frage zu stellen: Warum wird gerade Lothar Erdmann geehrt? Die Tafel gibt darüber keine Auskunft, die Auswahlkriterien bleiben, wie übrigens überall, unverständlich und diffus spontane emotionale Zustimmung allein kann keine Ehrung begründen. Wenn man sich die Mühe macht und den Lebensweg von Erdmann verfolgt, ist aber zumindest eines auffällig: Auch hier handelt es sich um einen Vergessenen und relativ Unbekannten, um einen der Unzähligen, die unter der faschistischen Herrschaft starben.

Es stellt sich Ratlosigkeit ein. Am Ende setzt jede Tafel das interessierte Publikum zwischen die Stühle; man schwankt nach der Lektüre der Texte zwischen schnellem Halbwissen und dem Wunsch nach mehr und genaueren Informationen. Und außerdem weiß man selbst schließlich auch etwas: Ging nicht der im Februar 1919 ermordete Kurt Eisner, der am 7.November, vom Münchner Arbeiter- und Soldatenrat gestützt, als erster bayerischer Ministerpräsident die Monarchie auflöste, im letzten Jahrhundert auf das Askanische Gymnasium? An den muß erinnert werden und an ein Stück Demokratieentwicklung in Deutschland! Schon wieder die Stühle: zwei Tafeln nebeneinander, ein Geologe und ein Sozilarevolutionär, sehen doch merkwürdig aus, und nachher hängt die ganze Hauswand voll. Wer also: Kunth oder Eisner oder Erdmann? Oder wer?

Eine öffentliche Diskussion um Sinn und Zweck von Gedenktafeln hat es in West-Berlin bisher nicht gegeben die zu erwartenden politischen Streitfragen werden lieber im Vorfeld nach dem Verordnungsprinzip zugehängt. Man ahnt zunächst gar nicht, was es alles gibt: hier ein nur Eingeweihten und Lokalspezies bekanntes Obdachlosenasyl im Wedding, dort ein Teltower Lokalpolitiker, über den uns, abgesehen von seinen vielen Ämtern, nichts weiter mitgeteilt wird. Weiter geht's mit einem Architekten, der in den 20er Jahren eine Siedlung geplant hat, und auch ein ehrenamtliches jüdisches Auswanderungsamt in Charlottenburg ist dabei. Angst und Schrecken, Bildung und Erbauung - im „Berliner Gedenktafelprogramm“ ist so ziemlich alles drin, und nur dessen Macher wissen warum.

Nun gibt es Gedenktafeln nicht erst seit 1987 - sie sind eine Form der Selbstvergewisserung, eine Erfindung unserer bürgerlichen Eliten, die vorrangig an sich selbst interessiert sind. Das „Berliner Gedenktafelprogramm“ ist dann auch von zahllosen weniger programmatisch entstandenen Hinweisstücken im Stadtraum durchsetzt, die meisten bereits früher gehängt, mit auffälliger Häufung allerdings in den 80ern. Bevorzugt und beliebt sind Politiker, Wissenschaftler, Erfinder - also am wie auch immer verstandenen positiven Fortgang des Gemeinwesens Beteiligte, mitunter auch die dazu notwendigen kommunalen Einrichtungen. Das geht, bleiben wir in der Nachkriegszeit, vom verdienten Funktechniker Graf Arco über Luise Schroeder, „beauftragter Bürgermeister“ (sic!) von Berlin 1947/48, und ein mittelalterliches Lehnschulzenhof mit Dorfgericht bis hin zur Lufthansa-Aktiengesellschaft. Die mitunter gesunde Eigenwerbung nimmt der Normalgedenkende en passant und gratis mit: Wenn die Spielbank Berlin nicht in selbstloser Weise eine sogenannte Förderungsaktion gestartet hätte, fehlte ein Hinweis auf das Wohnhaus des Reichstagsabgeordneten Rudolf Wissell (1896-1962) - uns fehlte er aber nicht. Wenn die Tafel erst einmal hängt, erübrigt sich die Frage nach dem Nutzen. Es ist wie mit den Erholungsbänken in den öffentlichen Parkanlagen: Gestiftet von XY und dann: Ruhe sanft!

Diese uns alle und überall verfolgenden historischen Erinnerungsstücke sind in ihrem pädagogischen Duktus verquast, ein zur politischen Bildungsarbeit Williger kann in dem unstrukturiertren Durcheinander keine Ansatzpunkte finden. Wer einmal an einer offiziellen Gedenktafel -„Enthüllung“ teilgenommen hat, begreift recht schnell, daß die Selbstfeier von Bezirksbürgermeistern und anderen Honoratioren versteckter Antrieb für solche Veranstaltungen ist.

„Eingeweiht“ werden vordergründige Wissensspeicher, gelernt wird spontan und folgenlos nach dem Motto: „Ach, hier war das!“ Der Informationsgehalt der meisten Tafeln beläuft sich auf Name, Vorname und Beruf, lose verknüpft mit einem spektakulären oder vermeintlich wichtigen Einzelereignis. Frauen sind notorisch unterrepräsentiert - das ist mittlerweile nur noch peinlich.

Weitaus wichtiger als eine ansatzweise Geschlechtergleichheit, wenn auch undefiniert, scheint der Wohnsitz der ausgewählten Menschen zu sein, einer der heiligen Grundsätze, die bei einer Gedenktafelerstellung möglichst zu beachten sind. Wie zufällig oder nicht eineR in der Großstadt zu einer Wohnung kommt, wird in keiner Weise berücksichtigt. Solche Probleme souverän ignorierend, faßte ein Sparkassenbezirksdirektor gegen Ende einer Präsentation jüngst noch einmal zusammen: Das Berliner Programm sei von der Bevölkerung erfreulicherweise gut angenommen und unterstützt worden. Es ist unschwer zu erraten, warum: Wenn's dem mündigen Bürger keine intellektuelle und seelische Mühe macht, kurz: wenn's ihn nicht stört, dann geht das schon.

Diese selbstgefällige Art, Geschichte „aufzuhängen“, ist seit der öffentlichen Pflicht zur Vergangenheitsbewältigung nicht mehr möglich; wenn das Gedenken im herkömmlichen Stil auch immer noch fortgeführt wird. Die in Deutschland produzierte Gewalt führte, wo schon nicht zur Beseitigung ihrer gesellschaftlichen Ursachen, so mindestens doch zu reuigen Gesten. Angesichts der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung gerade auch in Berlin waren solche von offizieller Seite zunächst eher zweifelhaft. Zwei Wilmersdorfer Tafeln aus den 70er Jahren teilen mit, daß an den entsprechenden Orten die Synagogen aus „Unverstand“ und „Rassenwahn“ zerstört wurden. Genau, so war's gewesen: Zwischen 1933 und 1945 waren hierzulande nur Verrückte und Spinner unterwegs. Von solchen Weisheiten ist es dann nicht mehr weit bis zu der Erkenntnis des seligen F.-J. Strauß und anderer nationaler Ablaßhändler, daß wir nun allmählich Schluß machen könnten mit dem schlechten Gewissen. „Unvergessenes Andenken“?

Sicher, es gibt auch Geschichtsverwalter, die verstanden haben, daß die „öffentliche“ Auseinandersetzung mit dem deutschen Faschismus zugleich eine Frage politischer Moral und vor allem der Würde ist. Auf dem Gedenktafelsektor merkt man das daran, daß derzeit vorrangig Hinweise auf Stätten der NS-Herrschaft installiert werden. Das sieht auf den ersten Blick ganz beeindruckend aus.

Einigen aufmerksamen Stadterkundern wird der rote Doppeldeckerbus des „Mobilen Museums“ an seinem Standort Tiergartenstraße 4 noch in Erinnerung sein. Mit einer eindringlichen Ausstellung vor Ort wurde 1987 auf das NS -Euthanasieprogramm und seine Agenten aufmerksam gemacht. Wie so oft ging auch in diesem Fall die Initiative zuerst von privater Seite aus - bekannt war der Standort des Mordinstitutes den in Frage kommenden Behörden natürlich schon vorher. Es war befremdlich zu beobachten, wie quälend die halbherzig getroffene Entscheidung für eine Gedenktafel umgesetzt wurde - die Bezirksverwaltung hatte sich jahrelang quergestellt. Knapp 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war es dann endlich so weit: Es wurde enthüllt, und der Nutzen ist bescheiden. „An dieser Stelle, in der Tiergartenstraße 4, wurde ab 1940 der erste nationalsozialistische Massenmord organisiert...“ Die ganze Wahrheit ist das nicht. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ wurde bereits am 14.Juli 1933 erlassen, und die entsprechenden Herrschaften „arbeiteten“ schon Ende der 30er Jahre im Columbus-Haus am Potsdamer Platz. Grund des Umzugs waren lediglich die beengten Räumlichkeiten. Wer mehr wissen will, rufe Dr. Werner Catel in Kiel an - der hatte hier seinen Schreibtisch. Der Mann war nach dem Krieg, wen wundert's, schon wieder ganz vorne: als Professor für Pädiatrie und Direktor der Universitätsklinik in Schleswig-Holstein.

Es ist mit den Gedenktafeln wie mit der Beichte, hinterher sind die Sorgen verflogen, und man drängt zu neuen Taten. An Mauern hängt sich's leicht. Und zur Rechenschaft gezogen wurde keiner - nun ist es in den allermeisten Fällen zu spät dazu. Man begreift das Wesen der Erinnerungsweiser: Sie hinken immer hinterher. Und sie tun keinem weh. Ein politischer Streit um den Gegenstand findet nicht statt. Die Gedenktafeln zu den NS-Verbrechen spiegeln dann auch exakt wider, was Ralph Giordano als die „Zweite Schuld“ bezeichnet. Die sogenannte Aufarbeitung der Vergangenheit brauchte soviel Zeit, daß die angeblichen Mahnmale inzwischen fast nur noch adrett gestaltete Kunstwerke sind. Derweil führen sich die Touristenmassen am Potsdamer Platz seit Jahrzehnten genüßlich die Reste des Bunkers der Reichskanzlei zu Gemüte, während der „Volks„gerichtshof an der Bellevuestraße vor sich hin schlummert. Die Faszination des letzten, sagenumwobenen Aufenthaltsortes des „Führers“ könnte ein paar Meter weiter auch keine noch so eindringlich gestaltete Gedenktafel mehr relativieren - die Chance, dem Spektakel etwas Adäquates entgegenzusetzen, ist längst vertan.

Was also tun? Der Bezirk Kreuzberg wollte die Sache entschlossener anpacken. Die exklusiven Gedenkstücke aus dem Bürgermeisterprogramm wurden verworfen - exemplarische Beispiele sollten an den Widerstandskampf der unbekannten Kreuzberger erinnern: jede Gedenktafel ein individuell gestaltetes Auftragskunstwerk. Immerhin, was 40 Jahre lang kaum denkbar war: Es tauchten auf einmal Kommunisten auf, deren historischer Anteil am Widerstand, zum Leidwesen der Bezirkspolitiker, besonders groß war.

Am U-Bahnhof Hallesches Tor hängt seit diesem Jahr eine Erinnerungstafel an den Arbeiter Wolfgang Thiess, der antifaschistische Flugblätter aus dem Zug warf und dafür am 9. September 1943 in Plötzensee hingerichtet wurde, mit 32 Jahren. Die Tafel ist aufgeteilt in 13 Felder, auf denen die Lebensstationen des Mannes bildhaft dargestellt sind. Einige der Felder sind mit Absicht leer gelassen, weil zu wenig über Thiess bekannt ist. Ein Sprayer hat stellvertretend für viele zugelangt: Die hochverschlüsselte Kunst vermasselt die Botschaft.

Ein Stückchen weiter, Wilhelmstraße 37, wird an regelmäßige Treffen von Mitgliedern der bekennenden Kirche erinnert, Widerstand und Opposition werden betont. Ungläubig steht der Betrachter davor, links ist Otto Dibelius zu erkennen, damaliger preußischer Generalsuperintendent und des Antisemitismus nicht unverdächtig. Er hatte die Nazis am 21.März 1933 mit den Worten begrüßt: „Wir haben von Dr. Martin Luther gelernt, daß die Kirche der rechtmäßigen staatlichen Gewalt nicht in den Arm fallen darf, wenn sie tut, wozu sie berufen ist. Auch dann nicht, wenn sie hart und rücksichtslos schaltet.“ Das war den Gedenktafelmachern übrigens vorher bekannt - das Ding hängt trotzdem. Eine derartig bewußte Blindheit, die auch durch „die Putzfrau Minna Fritsch“ aus dem kommunistischen Widerstand, Wassertorstraßer 53, nicht aufgewogen werden.

Unter dem Strich bleibt auch das Kreuzberger Programm hilflos. Es beseitigt nicht das generelle Problem, daß mit der Installation einer jeden Gedenktafel die Pflicht zur politischen Auseinandersetzung als abgeschlossen gilt. Die scheinbar sachlich, im Kern aber schonend und mit gesenktem Kopf formulierten Texte unterstützen diese Tendenz. In ununterbrochener Folge wird uns ein ruhiges Gewissen geschenkt. Wenn dann noch einmal auf einer Tafel deutlich formuliert und sie auch noch provisorisch, also nicht von offizieller Seite installiert wird, wie am ehemaligen Reichskriegsgericht in Charlottenburg im Juni 89, dann kommt der verärgerte Amtsrichter persönlich und reißt das Ding wieder herunter. Einige 100 zwischen 1936 und 1943 zum Tode verurteilte Kriegsdienstverweigerer sollten geehrt werden. Dem Richter, 1968 ins Licht der Öffentlichkeit geraten durch seine Beteiligung am Freispruch für den „Volks„gerichtshof -Schergen Rehse, wurde Milde zuteil (die taz berichtete). Nach Auffassung seiner Kollegen von der politischen Abteilung der Staatsanwaltschaft handelte er im „Tatbestandsirrtum“. Auf deutsch: Er hätte nicht wissen können, daß die Tafel in fremdem Eigentum stand. Ein windelweiches Lehr- und Schaustück für alle Gedenktafelproduzenten. Wie schön war es doch vor dem 30.Januar 1933. In der John-Forster-Dulles-Allee schräg gegenüber der Kongreßhalle lesen wir: „Im Königlichen Dienst wurde hier am 14.8.1889 der Gefreite Will, I. Esc. II. G.U. Regts., vom Blitz erschlagen.“

Hans-Heinz Havel