Endspiel

Die DDR führt die Visapflicht an der Grenze zur CSSR ein  ■ K O M M E N T A R E

Dieser letzte Zug ins längst ausgerechnete Schachmatt mußte wohl auch noch gezogen werden. Einen anderen Zug gab es nicht mehr, bei diesem Spiel. Daß der Weg über die CSSR geschlossen wird, hatten viele vermutet; aber daß dies noch vor dem vierzigsten Jahrestag geschehen könnte, hatte denn doch niemand erwartet. Die Einführung der Visapflicht an der tschechischen Grenze ist weit mehr als nur ein neuerliches Symbol parteiamtlicher Sturheit, weit mehr als nur ein Notbehelf gegen Druck durch die Flüchtlinge in der Prager Botschaft. Es verfängt auch nicht der Verweis, daß es an der polnischen Grenze die Visapflicht gibt. Es ist schlicht die Schließung der letzten Grenze, die Preisgabe auch des schwächsten Abglanzes ziviler Verhältnisse im Herzen von Europa. Es ist die Schließung genau jener Grenze, über die einst die Kommunisten sich vor der Naiz-Herrschaft ins freie Prag retteten. Jetzt ist die DDR zur geschlossenen Abteilung des europäischen Hauses geworden.

Mit diesem Schritt hat die DDR zum ersten Mal wieder auf die Logik der Mauer zurückgegriffen, auf die Massenabschließung als Antwort auf eine innenpolitische Krise. Bis zu diesem Tag galt das auch von der DDR geteilte Prinzip, das Problem der Mauer verhandlungsfähig und ertragbar zu machen. Jetzt setzt die Logik der Abschließung wieder voll ein, und es ist kaum vorstellbar, daß die DDR -Regierung dabei stehenbleiben kann. Die Schließung der letzten freien Grenze geschieht im selben Moment, an dem der Dissens Massendimension angenommen hat. Das zeigen die 25.000 Protestierenden, die sich auf dem Karl-Marx-Platz von Leipzig versammelten. Die Fünfundzwanzigtausend haben gezeigt, daß die Zeit der Demütigung, der demütigenden Unterdrückung vorbei ist. Die Schließung der Grenze ist auch und vor allem ein Akt der Demütigung.

Die SED hat im Frühjahr mit ihrem frenetischen Jubel über die chinesischen Panzer ihrer Bevölkerung klargemacht, an welche Optionen sie denkt oder welche Optionen sie überhaupt noch hat. Ist die Zeit der „eruptiven Entwicklungen in der DDR“, die Willy Brandt in einer Art sprachlichen Kopf -Einziehens dunkel beschwört, nunmehr angebrochen? Die einzige Möglichkeit für die DDR-Führung, wäre die Verbindung der Grenzschließung mit den längst geforderten Reiseerleichterungen, das heißt die Überleitung des Flüchtlingsstroms aus den Botschaften in bürokratische Bahnen. Gäbe es dazu wenigstens ein paar Reformsignale, dann hätte die DDR-Regierung eine Atempause gewonnen. Aber der zeitliche Spielraum ist dafür äußerst kurz, ein Spielraum von wenigen Tagen. Nichts spricht dafür, daß sich die DDR -Führung, die die ungestörte Jubiläumsfeier zum höchsten Staatsziel erhoben hat, sich dessen bewußt ist.

Klaus Hartung