Die israelischen Mythen

Gordian Troeller zur Kritik an seinem TV-Film über die Kinder der Intifada  ■ D E B A T T E

Ich kann verstehen, daß unser Film Die Nachkommen Abrahams jemandem, der die israelische Position in der Bundesrepublik vertritt, ebenso unter die Haut geht wie einem Menschen, der unvoreingenommen durch Palästina reist und sieht, was die Besatzungsmacht dort an Menschenrechtsverletzungen anrichtet.

Verständlich ist auch, daß die israelische Propaganda jede Kritik am Staat Israel als Verleumdung des jüdischen Volkes anprangert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn Herr Singer mir unterstellt, daß alle Aussagen israelischer Schülerinnen und Schüler von mir als „Beweis für die Intoleranz der Juden“ dargestellt würden. Mit diesem Amalgam von Zionismus und Judentum, vom Staat Israel und dem jüdischen Volk soll Kritik an der israelischen Regierung als Antisemitismus angeprangert und somit als neonazistisch abgewertet werden. Das kann ins Auge gehen. Zum Beispiel: Wenn die Presse berichtet, daß Hunderte israelischer Reserveoffiziere und Soldaten lateinamerikanischen Diktatoren zur Hand gehen, ja sogar Todesschwadrone und Killer der Rauschgiftmafia ausbilden, dann müßte - nach dieser Logik - die öffentliche Meinung hier die Juden am Werk sehen, obwohl es sich nur um israelische Söldner handelt. Mit der Gleichsetzung von Israel und jüdischem Volk tut man den Juden in aller Welt keinen Gefallen. Im Gegenteil, man provoziert einen neuen Antisemitismus. Aber gerade dem wollen wir mit Filmen wie dem unsrigen entgegenwirken. Israel ist ein Staat wie jeder andere und muß als solcher kritisiert werden dürfen. Niemand kann leugnen, daß das jüdische Volk Schlimmes erleiden mußte und nahezu überall auf der Welt ausgegrenzt, diskriminiert und verfolgt wurde. Dafür muß es doch eine Erklärung geben. Die von mir im Film angesprochene Erklärung basiert auf Gesprächen, die ich vor einigen Jahren mit New Yorker Rabbinern führte. Als ich dort in der Serie Kinder der Welt einen Film über ethnische Minderheiten drehte, wollte ich am Beispiel orthodoxer jüdischer Gemeinden zeigen, wie wichtig die Religion für den Bestand kultureller Identität ist. Für diesen Bericht erntete ich damals von jüdischer Seite Lob. Während der Dreharbeiten sprach ich mit mehreren orthodoxen Rabbinern über die Hintergründe des auch in den USA spürbaren Antisemitismus. Sie waren überzeugt, daß es nur wenig mit „Rasse“ zu tun haben könnte, da sie sich selbst nicht als Rasse fühlten, sondern als Glaubensgemeinschaft. Sie meinten, es würde eher mit dem Anspruch der Juden zusammenhängen, Gottes auserwähltes Volk zu sein. Das leuchtet mir auch heute noch ein. Antisemitismus ausschließlich auf rassische Merkmale zu beschränken, heißt den Augenschein leugnen und der nationalsozialistischen Logik recht geben. Herr Singer schreibt selbst: „Wohl kaum eine Religionsphilosophie ist so unmissionarisch.“ Richtig: Wer sich von Gott auserwählt fühlt, kann nicht bekehren wollen.

Warum wird die libanesische Diaspora, die über die ganze Welt verstreut ist, nicht diskriminiert, obwohl die Libanesen auch Semiten sind?

Herr Singer stellt mich mit Goebbels auf eine Stufe. Ich möchte nicht zurückpöbeln, aber zu bedenken geben, daß seine Art der Text-, Bild- und Sinnfälschung übelster Demagogie entspricht.

Immer wieder unterstellt er uns, mit unserer Kritik an israelischen Menschenrechtsverletzungen die Juden als Gemeinschaft verantwortlich zu machen. Wir greifen ausschließlich die israelische Regierung an. Wir unterscheiden auch nicht zwischen „guten“ und „bösen“ Israelis. Wir zeigen nur, in welchem Maße das Vorgehen der israelischen Truppen in den besetzten Gebieten die israelische Nation spaltet und auf eine gefährliche Zerreißprobe stellt. Was Singer als Scheinausgewogenheit und „Knalleffekt“ am Ende des Films fälschlich darstellt, hört sich in Kommentar und O-Ton so an:

„Auf einer der Tafeln werden die Frauen (die für eine Verständigung mit den Palästinensern eintreten) als 'schwarze Witwen‘ bezeichnet, als giftige Spinnen. Darauf reagiert der deutschsprachige Israeli empört: 'Bitte schön, das ist der beste Beweis für Faschismus in Israel. Die schwarzen Frauen sind Ungeziefer, gefährliches Ungeziefer. Da könnt ihr einen Begriff haben, wie gefährlich diese Menschen sind.‘ - Er meint diese hier, Siedler und fanatische Zionisten. Auch aus ihren Reihen will einer zu Wort kommen: 'Die stehen hier seit anderthalb Jahren, und die Leute schenken ihnen keine Aufmerksamkeit. Die sind ein Haufen von Schwachköpfen, Homosexuellen und enttäuschten Damen, die nicht den geringsten Teil israelischen Denkens verkörpern. Die Mehrheit der Israelis lehnt es ab, Land für Frieden aufzugeben. Sie wissen, daß Frieden so nicht erreicht werden kann.'“ - Ist das nicht eine Wortwahl, die wir aus Nazi-Deutschland kennen? „Giftige Spinnen“, „Homosexuelle“, „enttäuschte Damen“? Spricht dieser Mann etwa auch für die Juden?

Wieder O-Ton: „Sie haben mich gefragt, was ich hier gesagt habe. Ich habe gesagt, daß diese Frauen diejenigen sind, die die Ehre des Volkes Israel retten. Sie vertreten den jüdischen Geist, den Geist der Propheten, den Geist der Liebe, der Friedfertigkeit, der Bereitschaft, mit Menschen zusammenzuleben, und einen neuen Anfang zu machen, für die menschlichen Beziehungen zu diesen Völkern. Während die anderen, die sind typische Faschisten. Die verstehen nur eine Sprache, die Sprache der Gewalt, und Gewalt muß zerstören, den Staat Israel. Gewalt kann nicht auf Dauer den Staat Israel aufrechterhalten.“

Diese Sequenz des Films hatten wir mit folgenden Worten eingeführt: „Frauen in Schwarz, auch sie sind für den Frieden. Jeden Freitag halten sie im Zentrum von West -Jerusalem eine zweistündige Mahnwache. Sie wollen an die Werte erinnern, denen sich die meisten Juden in aller Welt verpflichtet fühlen: Menschlichkeit, Toleranz, Friedfertigkeit.“

Ist das Antisemitismus? Eindeutiger konnten wir nicht darstellen, daß Judentum und radikaler Zionismus nichts miteinander zu tun haben und das jüdische Volk nicht mit dem Staat Israel identisch ist. Diese, von der israelischen Propaganda angestrebte Identifikation führt - angesichts dessen, was im Namen des Judentums in den besetzten Gebieten geschieht - sicherer zu einem neuen Antisemitismus als die Parolen rechtsradikaler Cliquen. Um Herrn Singers Verdrehungen und Fälschungen meines Textes richtigzustellen, bräuchte ich mehrere Seiten der taz. Deshalb muß ein Beispiel genügen: Er macht die Araber für die Vertreibung der palästinensischen Flüchtlinge verantwortlich. Das entspricht zwar der offiziellen israelischen Geschichtsschreibung, wurde aber durch kürzlich freigegebene Dokumente als israelische Propaganda entlarvt. Simcha Flapan, ein israelischer Wissenschaftler, hat mit Hilfe der Ford Foundation, des American Middle East Peace Research Instituts, der Havard-Universität und der Mitarbeit namhafter jüdischer und arabischer Historiker diese Dokumente analysiert und ein Buch veröffentlicht, das mit den sieben Grundbehauptungen israelischer Propaganda aufräumt. Die Grundbehauptungen lauten:

1. Die Zionisten waren mit der UN-Resolution vom 29. November 1947 über die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat einverstanden.

2. Die Araber lehnten die Teilung strikt ab und begannen den Krieg von 1948, um eine militärische Lösung des Palästinaproblems zu erreichen.

3. Die Palästinenser flohen vor und nach der Staatsgründung, weil sie von den arabischen Staaten dazu aufgefordert wurden, die ihnen eine Rückkehr mit den siegreichen arabischen Armeen versprachen.

4. Die arabischen Staaten schlossen sich in der Absicht zusammen, den neugeborenen israelischen Staat zu zerstören und die jüdischen Einwohner zu vertreiben.

5. Der arabische Einmarsch am 15. Mai 1948 machte den Krieg unvermeidbar.

6. Israel lief Gefahr, von einer militärischen Übermacht überrannt zu werden.

7. Israel ist zum Frieden mit seinen arabischen Nachbarn immer bereit gewesen, doch kein arabischer Politiker hat das Gespräch mit Israel aufgenommen.

Diese Kernsätze der israelischen Propaganda widerlegt Simcha Flapan an Hand der jetzt verfügbaren Dokumente. Nehmen wir also die Grundbehauptung Nr. 3, die David Singer unter anderem gegen mich ins Feld führt. Ich zitiere aus Simcha Flapans Buch Die Geburt Israels - Mythos und Wirklichkeit:

-„Daß Ben Gurion doch das Ziel verfolgte, möglichst viele Araber aus dem Territorium des jüdischen Staats zu entfernen, läßt sich kaum bezweifeln, wenn man sich die Vielfalt der Methoden vergegenwärtigt, deren er sich zur Erreichung dieses Zieles bediente: militärische Aktionen zur Störung oder Zerstörung des arabischen Wirtschafts- und Güterverkehrs, so daß die Bevölkerung der palästinensischen Städte nicht mehr mit Lebensmitteln und Rohstoffen versorgt werden konnte, psychologische Kriegsführung, von der 'freundlichen Warnung‘ bis zur unverblümten Einschüchterung und zur Ausnutzung des Schreckens, den die jüdischen Untergrund-Terroristen verbreiteten, aber am entscheidendsten war die Zerstörung ganzer Dörfer durch israelische Truppen und die Vertreibung ihrer Bewohner.“ (vgl. S. 132)

-„Wie grausam und gnadenlos dieser Krieg geführt wurde, war bereits am Beispiel des Massakers von Dir Jassin deutlich geworden. Dieses Dorf lag in einem überwiegend jüdisch besiedelten Gebiet unweit von Jerusalem und hatte, wie bereits erwähnt, schon 1942 mit seinen jüdischen Nachbarsiedlungen einen Nichtangriffspakt geschlossen. Aus diesem Grund hatte das Dorf beim Ausbruch der Kämpfe das AHC nicht um Schutz gebeten. Am 9. April 1948 überfielen jedoch Irgun- und LEHI-Kämpfer das Dorf und richteten kaltblütig und vorsätzlich ein Blutbad an.“ (vgl. S. 136-137)

-„Mit Feuer, Dynamit und mit der Verminung übrigbleibender Ruinen hatten die IDF es bis Ende des Krieges 1947/48 geschafft, 350 arabische Dörfer und Kleinstädte in den für den jüdischen Staat von vornherein vorgesehenen oder von den Juden im Krieg eroberten Gebieten zu entvölkern und einzuebnen. Tausende und Abertausende von Häusern, Werkstätten, Lagerhallen, Viehställen, Kinderheimen und Gärten wurden zerstört, Vieh geraubt, bewegliches Inventar entweder beschlagnahmt oder verbrannt.“ (vgl. S. 140)

Vielleicht ist auch folgende Passage aus dem Buch Die Geburt Israels eine Überlegung wert. Simcha Flapan schreibt: „Die Mythen des Staates Israel bilden den Kern des israelischen Selbstverständnisses. Israel besitzt zwar die am modernsten ausgerüstete Armee im Nahen Osten und ist de facto Atommacht, aber sein Selbstbild orientiert sich nach wie vor am Holocaust - man sieht sich als Opfer eines übermächtigen Feindes. Was immer wir Israelis tun, mit welchen Mitteln auch immer wir unser Erworbenes zu verteidigen oder zu mehren suchen, alles wird als Notwehrmaßnahme eines um sein Überleben kämpfendes Volks gedeutet. So gesehen hat Israel immer das Recht auf seiner Seite. Die in der Phase der Staatsgründung entstandenen israelischen Mythen haben sich mittlerweile zu einem undurchdringlichen und gefährlichen ideologischen Schutzschild verfestigt. Was sich mir jedoch bei der Lektüre der Dokumente aufdrängte, war die Erkenntnis, daß diese Mythen, die sich genau in der Zeitspanne zwischen 1948 und 1952 ausbreiten, von den dokumentarischen Belegen nicht nur nicht bestätigt, sondern flagrant widerlegt werden.“ (vgl. S. 14)