Sowjetisches Parlament gegen Streikverbot

Gorbatschow warnte aber, daß weitere Streiks „unseren Reformen an die Kehle gehen werden“ / Fragen der Mehrfachbesteuerung von Produzenten und Unternehmen sowie der Arbeitslosigkeit und Sozialversicherung im Regierungsentwurf ungenügend bedacht  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

Die sowjetische Regierung hat am Dienstag ihren Vorschlag vom Montag zurückgenommen, wonach Streiks auf Eisenbahnlinien, im städtischen Transportwesen, auf Fluglinien, im Nachrichtenwesen, bei der Energieversorgung, im Verteidigungswesen und bei den Staatsorganen für alle Zukunft verboten sein sollen. Der stellvertretende Innenminister Wadim Bakatin begründete diese Entscheidung damit, daß der ursprüngliche Antrag verfassungswidrig sei. „Es gibt niemanden in diesem Land, der nicht Grund hätte, zu streiken.“ Dieser Satz stand wie ein unausgesprochenes Motto über dem Appell des stellvertretenden sowjetischen Ministerpräsidenten Voronin, als er am Montag abend die Deputierten des Obersten Sowjet dazu aufrief, für ein generelles Streikverbot in allen Zweigen der Volkswirtschaft in den nächsten 15 Monaten zu stimmen. Voronin nannte keine Sanktionen, die gegen Streikende angewandt werden sollen. Er sprach aber von einer „speziellen Form der Verwaltung“, der die blockierten Eisenbahnlinien durch Aserbaidschan nach Armenien unterworfen werden sollen. Damit war offensichtlich eine Machtübernahme der Militärs in diesen Regionen gemeint.

Ein Bericht über die Situation im Transportwesen des Landes angesichts des drohenden Winters bildete den Hintergrund für Voronins Forderung. Gorbatschow warnte, daß weitere Streiks „unseren Reformen an die Kehle“ gehen würden; vor allem in den Schlüsselgebieten könnten die Konsequenzen alles bisher Erreichte zunichte machen.

„Von außerordentlichen Maßnahmen, die nur einen taktischen Gewinn auf Kosten eines Strategieverlustes bringen“, zu normalen Schritten überzugehen, dazu hatte gerade am Vortage der stellvertretende Vorsitzende des „Komitees für ökonomische Reformen“, Bunitsch, aufgerufen. Er war einer von fünf Kommentatoren, die sich zu der Marothonrede äußerten, in der Ministerpräsident Ryschkow am Montag das Fünferbündel von Gesetzesentwürfen zur Ökonomie vorstellte, mit denen die Perestroika vom Kopf auf die Füße gestellt werden soll: die Gesetze 1.über Eigentum, 2.über die Erde, 3.über Pachtverträge, 4.über ein einheitliches Steuersystem und 5.über das sozialistische Unternehmen. Ryschkows Rede, wie auch die dazu folgenden Kommentare machten das ganze Ausmaß der Sysyphusarbeit deutlich, die sich die sowjetische Regierung mit der Umgestaltung des Imperiums vorgenommen hat. Jedes kleine Mosaiksteinchen, das hier umgewälzt wird, jede Unterklausel eines dieser Gesetze ist mit allen anderen zu einem gewaltigen Klumpen verbunden. Kernstück ist dabei das „Gesetz über das Eigentum in der UdSSR“. Bei einer Vielfalt von Eigentumsformen soll die sozialistische Gesellschaft eine Assoziation freier und voneinander unabhängiger Arbeitskollektive und Familienhaushalte auf der Basis der sozialistischen Gemeinschaft darstellen. Dies forderte V.M. Vologschin als Vorsitzender der Wirtschaftsreformkommission. Staatliches, kooperatives und privates Eigentum sollen in Zukunft konkurrieren.

Daß in diesem Zusammenhang eine völlig neue juristische Basis für das Eigentum geschaffen werden muß, hob S.S. Aleksejew als Vorsitzender des „Komitees für Fragen der Gesetzgebung, Gesetzlichkeit und Rechtsordnung“ hervor. In diesem Zusammenhang kritisierte eines der Mitglieder eben dieses Komitees, der Deputierte A.A. Sobtschak, daß die Vorstellung von Eigentum, die in der im letzten Herbst verabschiedeten neuen Sowjetverfassung ihren Ausdruck findet, „unverändert geblieben“ sei. Die Wertordnung begänne dort mit dem sozialistischen Eigentum, um über das staatliche und kollektive schließlich und letztlich auch noch auf das Privateigentum zu kommen. Demgegenüber müßten auch in Eigentumsfragen zuerst die Rechte des Individuums gesichert werden. Und sowohl der Staat als auch das Kollektiv seien dem gegenüber nur „sekundäre Gebilde“.

Gerade den Begriff des „kollektiven Eigentums“ vermißte Bunitsch in dem vorliegenden Gesetzesentwurf. Und er machte noch auf andere Widersprüche aufmerksam. So sei die Möglichkeit der Mehrfachbesteuerung von Produzenten und Unternehmen durch verschiedene übergeordnete Instanzen nicht genügend bedacht, ebensowenig Fragen der Arbeitslosigkeit und Sozialversicherung. Wie könne man denn, so fragte der Referent, von einem wirksamen Pachtsystem sprechen, wenn man den Preis der Erde nicht kenne. Wie alle, die an diesem Tag das Wort ergriffen, war Bunitsch schließlich auch der Meinung, das dieses Gesetzeswerk ohne die entsprechenden Ausführungsbestimmungen das Papier nicht wert sein wird, auf dem es steht.