„Ihr könnt abdanken, jetzt sind wir dran!“

■ In Leipzig demonstrierten am Montag abend 15- bis 20.000 für Reformen und Zulassung des „Neuen Forums“

Es wurde ein finsterer Abend für die Leipziger SED-Führung. Mit allen Mitteln hatte sie versucht, die Demonstration kleinzuhalten. Doch nachdem sich der Zug erst unter Sprechchören durch die Innenstadt gedrängelt hatte, war der Karl-Marx-Platz, den sonst die SED nur mit einer 15-Mark -„Komm-Prämie“ zum 1. Mai füllt, schwarz von Menschen. Vopo -Ketten wurden erst verspottet und dann gesprengt. In Leipzig gehörte der Jubel „Dem Dämlichen Rest“ (DDR-Jargon), der es der Stasi gezeigt hatte - und nicht den schluchzenden „Deutschland-Deutschland„-Rufern vom Sonderzug aus Prag.

In das Halbdunkel vor der Nikolaikirche knallen plötzlich drei Scheinwerfer vom Dach eines Hochhauses. Die Menge, eben noch schweigend und unschlüssig, dreht sich wie auf Kommando in eine Richtung. Tausende Gesichter schauen in die Stasi -Kamera neben den Lampen. Da ruft einer: „Ihr habt verloren, könnt abdanken, jetzt sind wir dran.“ Jubel. Geballte Fäuste und Victory-Zeichen strecken sich der filmenden Staatsmacht entgegen. „Wir bleiben hier“, droht der Sprechchor.

Den Männern auf ihren hohen Exklusivplätzen müßten eigentlich die Ohren abfallen: Mehrstimmig und lauter als die beste DDR-Hifi-Anlage es vermöchte, schallt den Stasis immer wieder der Refrain entgegen: „Völker hört die Signale ... die Internationale erkämpft das Menschenrecht.“ Dazwischen ruft jemand unter tosendem Beifall „Stasi weg, hat kein Zweck“. Plötzlich dann: „Losgehen, losgehen.“ Irgendwie kommt Bewegung in den vollgestopften Platz. Die Demonstration setzt sich in Bewegung, zurückbleiben nur die staatlichen Kameraleute. Für sie und die gesamte Leipziger SED-Riege beginnt ein finsterer Abend.

Einschüchterung im Vorfeld

Nichts hatte der Apparat in den letzten Tagen unversucht gelassen, die Bevölkerung von der Straße fernzuhalten. Totschweigen konnte er die Demonstration des letzten Montags, an der 5.000 bis 8.000 Menschen teilgenommen hatten, nicht mehr. Aber auf die übliche „Gewalttäter„ -Propaganda der 'Leipziger Volkszeitung‘ mochte sich offenbar niemand verlassen. Die wildesten Gerüchte schwirrten durch die Stadt, einige vermutlich von den Genossen gestreut. Da war die Rede vom bevorstehenden Einsatz herbeigeorderter Hubschrauberstaffeln, Panzerwagen und Wasserwerfer.

Einschüchtern lautete die Parole. In den Betrieben, so berichten Arbeiter, wurden die leitenden Kader zusammengetrommelt. „Bei uns sagten sie, wir sollten uns nicht an den Ausschreitungen beteiligen“, erzählt ein Schlosser. An der Karl-Marx-Universität wurde Studenten noch am Montag vormittag mit Exmatrikulation gedroht, falls sie nachmittags zur Nikolaikirche gehen würden. Vergeblich.

Bereits eine Dreiviertelstunde vor Beginn des Friedensgebetes hängen an allen Türen Zettel: „Wegen Überfüllung geschlossen. Bitte haben Sie Verständnis. Um 17.15 findet in der Kirche der Reformierten Gemeinde eine weitere Andacht statt.“ Dort quetschen sich nach einmal etwa 1.500 Menschen in den Raum.

Vor der Nikolaikirche wird's bedrohlich eng. Einige rütteln an dem neuen Bauzaun („reine Schikane, um den Platz kleiner zu machen“). Andere lesen die, die an jedem Kirchenfenster hängen. Dort wird - unter Asternsträußen und Kerzen - die Freilassung der mindestens siebzehn seit dem 11. September nach einer Demonstration Inhaftierten gefordert. Aus der Kirche selbst dringt kein Ton. Aber es scheint niemand sonderlich zu interessieren, was dort vorgetragen und gebetet wird.

Auffallend wenige Menschen tragen die übliche Ausreiser -Kluft: „Schnee-Jeans“, schwarz-rot-goldene Aufnäher und Gorbatschow-Sticker an der Brust. SchülerInnen, einige wenige Punks, ansonsten dominiert die Gruppe der 20- bis 40jährigen. Man plauscht über die letzte Sowjetunion-Reise, stöhnt darüber, daß es momentan außer Blumen-, Weiß- und Rotkohl kein Gemüse gibt. „Aber wenigstens lassen sie uns mit dem Jubiläums-Zeug in Ruhe.“ In der Tat, bis auf einige beklebte Litfaßsäulen und Fahnen an den Ausfallstraßen weist in Leipzig nichts auf die bevorstehende 40-Jahrfeier der DDR hin. Bei vergleichbaren Anlässen „war doch sonst jedes Schaufenster voll mit Sprüchen“, erinnert sich eine Frau.

„Neues Forum zulassen!“

Plötzlich läuten die Glocken, öffnet sich die Kirchtür. Durch eine enge Menschengasse zwängen sich Tausende nach draußen. Spontaner Beifall. Nach der „Internationale“ ein dünner Ruf nach „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, dann ist es still. „Was denn jetzt?“ fragen etliche.

Es geht zum zum Karl-Marx-Platz. Auf dem Weg die erste Überraschung: Hatten die Demonstranten sich in der vergangenen Woche noch schweigend in Bewegung gesetzt und nur auf dem Kirchplatz Parolen gerufen, so hallt es jetzt durch die Ritterstraße: „Neu-es Fo-rum zu-lassen.“ Diese Forderung wird während des ganzen dreistündigen Marsches am meisten skandiert. Vom Straßenrand rufen viele das trotzig -lachende „Wir bleiben hier“ mit. Und immer wieder lösen sich aus dem Knäuel der Schaulustigen Menschen, reihen sich ein in den Zug.

Als dessen hinterer Teil den Karl-Marx-Platz erreicht, bietet sich erste Gelegenheit zum Überblick. Kräftige Schultern sind gefragt. Kreischen: „Mensch, das ist wahnsinnig, der Platz ist ja schwarz von Menschen.“ Sie können es nicht fassen, zwischen Oper, Post und Gewandhaus stehen vielleicht 15.000 bis 20.000 Menschen. Sie erinnern sich daran, daß die SED regelmäßig nach den 1.-Mai -Demonstrationen behauptet hat, 100.000 paßten auf den Platz und hätten dort auch gestanden. Nie hat das jemand geglaubt. „Aber wer hätte gedacht, daß wir den Platz jemals voll kriegen würden“, jubelt jemand.

In den Straßen rundherum fahren Lastwagen auf, stehen Polizisten. Mißtrauisch und ein wenig ängstlich mahnt ein Student: „Laß uns lieber in die andere Richtung gehen. Die kommen bestimmt gleich.“ Überall die gleiche Furcht, und nicht ganz unbegründet. Leipzig hat (fast) alles in Uniform gesteckt, was eine hat. Manche sehen aus wie Schüler, aber das könnte eins der vielen Gerüchte sein.

Verwirrte Truppe

Tatsache indes, daß die Bereitschaftspolizei aufgefüllt wurde mit Uralt-Kämpen aus den betrieblichen „Kampfgruppen“. Doch die Truppe macht einen verwirrten Eindruck. Demonstranten berichten von völligem Durcheinander in den Seitenstraßen, wo Hunde und Polizisten erst absperrten und dann die Menschen doch durchließen.

Während auf dem Karl-Marx-Platz die leeren Straßenbahnen („Niemand will heute nach Hause“) und vereinzelte Trabant -Stinkgranaten noch in der Menschenmenge stecken, bewegt sich der Zug auf dem zehnspurigen Boulevard in Richtung Bahnhof. Nach der Erfahrung des kurzen Sit-ins vor einer Woche auf dem Bahnsteig haben die „Trapos“, die Transportpolizisten der Reichsbahn, diesmal die Tür abgeschlossen. Genervt rütteln Reisewillige am Griff, halten ihre Fahrkarte hoch. Doch die Trapos kennen keine Gnade. Aus der Demonstration wird den Kofferträgern zugerufen: „Der Zug nach Helmstedt ist doch längst weg.“

Hinter dem Bahnhof, auf dem Trödlinring, kurz vor der „Blechbüchse“, dem Kaufhaus Konsument, stoppen die vorderen Reihen vor einer Lkw-Kette. „Gorbi, Gorbi“ und „Demokratie jetzt oder nie!“ rufen sie. Vor den Lastwagen stehen Polizisten in Dreierreihen. Jeder Uniformierte klammert sich hinten an die Ledergürtel seiner beiden Nachbarn. Diese Kette hat einen entscheidenden Nachteil: weil der „Bulle“ seine Hände nicht frei hat, kann er seine Mütze nicht festhalten. Dutzende der Machtsymbole fliegen unter lautem Gejohle durch die Menge - und landen auf einem Müllwagen.

Wortlos und mit starrem Blick kleben die Männer aneinander. Nicht wenigen perlt trotz heftigen Windes der Schweiß von der Stirn. Scheinbar ungerührt von dem tausendfachen Spott („Schämt euch, schämt euch“) halten die Polizisten der drängelnden Masse zunächst stand. Einige Demonstranten werden unruhig.

Dutzende Hände trommeln auf dem Dach eines „Toni“, wie die Lada-Pkws der Volkspolizei im hiesigen Jargon heißen. Dessen Insassen halten sich am Armaturenbrett fest, ihr Gefährt schaukelt bedrohlich. Die lautstarke Bitte von Demonstranten „Keine Gewalt“ gilt diesmal nicht den Polizisten, sondern den Autorüttlern. Sie lassen den Toni schließlich in Ruhe.

Daß hier nichts passierte, dürfte auch daran gelegen haben, daß einige Meter weiter die Polizeikette nicht mehr hielt. Unter Beschimpfungen gegen die Überrannten - „Ihr Arbeiter und Bauernverräter“ - drücken sich Hunderte über Rosensträuche und Bürgersteigpflaster nach vorn. Den Puffen und Rippenstößen des Gedränges entronnen, stellt sich ein Langhaariger auf einen Blumenkübel und seufzt aus tiefster Magengegend: „Oh, ist das wunderbar.“

Wenige hundert Meter weiter füllt sich die Fußgängerbrücke über dem Friedrich-Engels-Platz. Wie so viele will auch der 35jährige, von Beruf „Meister im Kollektiv“, den Strom der unten vorbeiziehenden sehen. „Hier kannst du nur glauben, was du selber gesehen hast“, sagt er. „Denk an Solidarnosc. Wir hätten damals doch nie geglaubt, daß die was ausrichten. Jetzt sitzen sie in der Regierung. Paß auf, nun geht's auch bei uns los.“

Und nach dem 7.Oktober?

Skeptischer ist sein Freund, Ingenieur in einem Chemiebetrieb: „Was ist denn nach dem 7. Oktober? Da drehen die uns doch wieder die Luft ab.“ Dagegen hält eine Krankenschwester: „Das können die sich nicht mehr leisten. Die müssen doch was verändern.“

Allmählich nähert sich das Ende des Zuges. Die drei schließen sich wieder an. „Warum wir mitgehen? Ich habe in den letzten Wochen 15 Postkarten von ausgereisten Freunden bekommen. Das ist nicht mehr auszuhalten.“

Stasi-Gebäude sturmreif

Plötzlich stehen sie vor dem Stasi-Gebäude. Während an der bisherigen Marschroute vor jedem Friseursalon Polizisten standen, steht die Tür des dunkelgrauen Gebäudes sperrangelweit offen. Ein wenig zögernd, aber von den Rufen „Neues Forum zulassen“ angespornt, betreten einige die Stufen vor dem Portal. Sie stehen schon im Eingang, genauso verdutzt wie die Männer im Innern. In letzter Sekunde scheint denen der Schreck aus den Glieder gefahren zu sein. Krachend fällt die Tür der Festung ins Schloß.

An der schräg gegenüberliegenden Thomaskirche endet die Demonstration. Polizeiketten oben, vorbeirollende Lkws unten. Ein Kessel? Die meisten gehen frierend und naß nach Hause. Um 20 Uhr 30 biegt dann ein neuer Zug von mehreren tausend Menschen am Stasi-Gebäude vorbei in die Straße. „Wo kommt Ihr denn her?“, wollen die anderen wissen. Nobody knows.

Während der überwiegende Teil längst zu Hause ist, kommt es an der Thomaskirche gegen 21 Uhr noch zu Rangeleien und vermutlich einigen Festnahmen. Offenbar will die Polizei endlich in ihr Nachtquartier, eine freigeräumte Messehalle, und macht der Restdemonstration ein schnelles Ende, das aber dem Vernehmen nach glimpflich ausgegangen ist.

Noch am späten Abend werden neue Pläne geschmiedet. „In der nächsten Woche machen wir einen Sternmarsch“, sagt einer. Die Kirche hat angekündigt, daß sie das montägliche Friedensgebet wegen des Andrangs in drei Kichen veranstalten wird - sternförmig verteilt in der Innenstadt.

In einer Leipziger Wohnung herrscht nachts keine ungetrübte Freude über den Abend. Mitglieder des Neuen Forums streiten darüber, wie es weitergehen soll. Einer befürchtet „Gewalttätigkeiten beim nächsten Mal, das wird man dem Neuen Forum anlasten. Hier hat keiner gelernt, gewaltlos zu demonstrieren. Aber wie können wir bloß die Menschen beruhigen?“

Michael Arnold, einer der landesweiten Sprecher, sieht es anders: „Wenn wir uns heute abend auf den Karl-Marx-Platz gestellt und eine Rede gehalten hätten, dann wäre uns gar nichts passiert.“ Arnold, für dessen Überwachung die Stasi eigens ein Ladenlokal auf der gegenüberliegenden Straßenseite Tag und Nacht besetzt und alle Gespräche in der Wohnung nachweislich abhört, hat während der Demonstration zu Hause seine Tochter gehütet. Im mit Zetteln und Kontaktadressen plakatierten Aufgang hängt ein kleiner Veranstaltungshinweis für den 8. Oktober. Titel: „Eine Hoffnung geht weiter“.

Inge Holstein