Warten auf die Modernisierer

Karsten Voigt, außenpolitischer Sprecher der SPD, zur Krise der SED  ■  I N T E R V I E W

taz: Sie kommen gerade aus einer noch laufenden Fraktionssitzung der SPD. Wie wird dort über die anhaltende Fluchtbewegung aus der DDR diskutiert?

Karsten Voigt: Für uns ist die anhaltende Fluchtbewegung ein Zeichen dafür, daß viele Bürger in der DDR die Hoffnung auf Reformen verloren haben. Andererseits gibt es auch eine wachsende Zahl von Gruppen in der DDR die auf Reformen drängen. Ein Beweis dafür, daß viele in der DDR die Hoffnung noch nicht preisgegeben haben.

Heute hat sich die Lage in und um die Prager bundesdeutsche Botschaft wieder verschärft. Gab es für die SED eine andere Möglichkeit, als die Grenze zu schließen?

Ja, den Bürgern in der DDR deutlich zu machen, daß man nicht nur die Wirtschaftspolitik demokratisieren will, sondern die Gesellschaft der DDR insgesamt. Außerdem: schrittweise Reisefreiheit, Selbstbestimmung, Menschenrechte und freie Meinungsäußerung. Dies ist der einzige Weg, die Fluchtwelle zu stoppen.

Ihr habt jetzt mit einer KPdSU-Delegation in Bonn gesprochen. Gab es in der Einschätzung der aktuellen Fluchtbewegung Gemeinsamkeiten?

Sicher ist, daß beide Gesprächspartner daran interessiert sind, daß die DDR im Reformprozeß an Stabilität gewinnt. Beide Gesprächspartner sind nicht daran interessiert, daß sich die Lage in der DDR zuspitzt, wegen des Ost-West -Verhältnisses und auch der Wiener Abrüstungsverhandlungen.

Mit anderen Worten: SPD und KPdSU sind sich einig in der Einschätzung, daß die derzeitige Reformverweigerung in der SED zu einer Destabilisierung der DDR beiträgt?

Für eine so prononcierte Aussage kann ich die Gesprächspartner der KPdSU nicht in Anspruch nehmen. Ich selber bin dieser Meinung. Aber ich glaube, daß ein Land wie die Sowjetunion, daß selbst erfahren hat, zu welchen Krisen die Stagnation führt, kaum den Verzicht auf Reformen verteidigen wird.

Sie waren zuletzt am Wochenende in Ost-Berlin und diskutieren öfter mit SED-Politikern. Gibt es in der Partei derzeit überhaupt noch eine Idee wie die Krise zu bewältigen ist?

Unabhängig von meinem Besuch am Wochenende in der DDR weiß ich, daß in der SED viele Personen in den letzten Monaten auch überlegt haben, wie man die Modernisierung des Sozialismus in der DDR betreiben sollte.

Modernisierung?

Die Erfahrungen in China zeigen, daß eine ökonomische Modernisierung ohne Demokratisierung auf Dauer zu neuen Spannungen führt.

Wird das in der SED auch so gesehen?

Ich glaube, zur Zeit noch nicht.

Interview: mtm