Mythenrecycling

■ Zur westdeutschen Erstaufführung von Volker Brauns „Siegfried Frauenprotokolle Deutscher Furor“ in Bonn

Gerhard Preußer

1. Roter Plüschvorhang mit Goldquasten. Feierliches Staatstheater.

2. Im Dunkeln erscheint eine Titelprojektion auf dem Vorhang: „Siegfried“, schwarz-weiß in klobigen Versalien. Kino, Monumentalfilm, Fritz Langs Nibelungen von 1924.

3. Die Schrift erlischt, der Vorhang öffnet sich, es erscheint - ein weiterer Vorhang. Musen lümmeln sich lasziv auf einer klassizistischen Tapisserie. 19.Jahrhundert, Pseudo-Mythologie, Hebbels‘ Nibelungen-Trilogie von 1860.

4. Die Musen verschwinden, und auf der Bühne sieht man eine Bühne. Das verkleinerte Abbild der Bonner Kammerspiele: Marionettentheater also? Und noch einmal wiederholt sich der Wechsel von Ankündigung und enttäuschter Erwartung. auf dem Miniaturvorhang erscheint (5.) die verkleinerte Schrift, hinter dem ersten Vorhang hängt der Musen-Teppich im Kleinformat, und dann erwartet uns: nichts. Schließlich tritt ein Schauspieler auf und macht den Kasper. Mit den Händen als Puppenersatz spielt er uns die Vorgeschichte des Siegfried-Mythos vor: wie er den bösen Zwerg bezwang und den Drachen erschlug.

Nächste Ankündigung: Auf die große Bühne kommen einige Schauspieler mit Textheften und probieren ein seltsames Stück. Keiner beherrscht den Text, die Mimen kalauern und veralbern die Sätze. Siegfried erscheint, ein pausbäckiger, goldlockiger Tarzan im Fell (Michael Lucke), mit einem Styroporklotz um sich werfend. Der Wettstreit zwischen Siegfried und König Gunter, danach scheint das Stück erledigt. „Haben Sie ein Wort verstanden?“ fragen die Schauspieler das Publikum, bevor sie verschwinden.

So beginnt Piet Dreschers Inszenierung: mit einer rasanten Anti-Klimax vom Erhabenen zum Lächerlichen. Der monströseste deutsche Mythos wird kleingehackt, durchgedreht, eingekocht und verwurstet.

Aber Volker Brauns Siegfried-Stück will keineswegs nur Entmythologisierung. Volker Braun will alles zugleich: materialistische Mythenkritik, poetische Nacherzählung des Mythos und Gegenwartsanalyse durch Konfrontation mit dem Mythos. Alles kommt vor: feministische Kritik am Krieg der Männer, patriotische Klage über den Stellvertreterkrieg der beiden deutschen Staaten, ökologische Reflexion über den Krieg des Industrialismus gegen die Natur, sozialistische Selbstkritik über die Ausreiselust der DDR-Bürger. Unter der Last all dieser Ansprüche bricht auch der stabilste germanische Recke zusammen: „Siegfried, der Held des Tages aus der Vorzeit.“

Schon der Titel spaltet die Sage in drei Teile. „Siegfried“ heißt das Märchen, wie man zum Helden wird; „Frauenprotokolle“ heißt das Familiendrama von Heldens privat; „Deutscher Furor“ heißt das Historienstück, in dem die Heldenvölker sich gegenseitig niedermetzeln.

Nachdem man die Ankunft Siegfrieds in Burgund entschlossen veralbert hat, wird Siegfrieds Wirken am burgundischen Hof sorgfältig zum modernen Ehedrama in besseren Kreisen aufgebaut. Ein Fernsehberichterstatter lädt uns zur Doppelhochzeit Gunter-Brünhild und Siegfried-Kriemhild ein. Dort geht es dann auch zu wie im Fernsehn. Als Gunter in der Hochzeitsnacht sich hektisch seiner Kleidung entledigt - der Gürtel hakt - und die Hose in die Ecke feuert, mokiert sich die Dame in der Reihe vor mir: „Das ist ja wie bei uns zu Hause.“ Aber Brünhilds Verhalten ist ungewöhnlich. Sie hängt, wie bekannnt, den zudringlichen Gatten an einen Nagel in der Wand, und nur wenige Ehemänner dürften in einer vergleichbaren Situation einen so wohlgesetzten Monolog von sich geben.

Die altehrwürdige Geschichte wird als tragikomische Trivialschnulze erzählt. Siegfried ist ein olympiareifer Zehnkämpfer, König Gunter sieht aus wie Gunther Sachs, Hagen agiert wie ein schein-seriöser Mafioso und Brünhild wie ein Karatetrainerin aus dem Fitness-Studio. Nur gelegentlich bricht sich Volker Brauns kantige Sprache Bahn unter all dem Schutt von beliebigen Bildassoziationen, und der Ernst der verhandelten Sache, die Männerherrschaft und die Deformation der Frauen, die sich ihr unterwerfen, wird deutlich.

Nach der Pause folgt das Gemetzel. Burgunder und Hunnen schlachten einander ab - diesmal wieder im Kino. Über der Szenerie hängt ein riesiges Werbeplakat für einen Hunnenfilm (Bühnenbild: Susanne Thaler). Man sieht die bekannten Gespenster aus The Big Sleep, gefolgt von Fantasy -Rittern aus Excalibur. Im Text hingegen geht es nun deutlich um aktuelle DDR-Probleme: „Lieber leben unter dem Schein der Knechtschaft frei als unter dem Schein der Freiheit als Knechte.“ So bringt es der wiedererstandene Siegfried auf den Punkt, und Gunters Bruder Volker (das alter ego des Autors) solidarisiert sich: „Schiebt ihr ihn ab. Dann reist noch einer aus.“ Aber Siegfried wird zum zweiten Mal von Stasi-Agent Hagen umgebracht. Die Hunnen kommen an den Rhein, so variiert Volker Braun die Vorlage, mit dem Besatzerspruch „Wir kommen als Freunde furchtbar dem Feind“ auf den Lippen. Um die allzu deutliche Gleichsetzung Hunnen-Russen zu konterkarieren, gestikuliert Etzel, der Hunnenkönig, wie Hitler. Am Ende steht ein Lustmord: Kriemhild (Annemarie Knaak), die vermännlichte Rächerin, stürzt sich auf Hagen und erdolcht ihn mit orgiastischer Extase.

Mythos ist in Mode, und Heiner Müllers Mythenrecycling beschäftigt die Bühnen schon seit einiger Zeit. In Volker Brauns Nibelungen-Trilogie müllert es mächtig. Entsprechend bedient sich die Inszenierung des Rezepts, mit dem man auch schon Heiner Müllers harte, rohe Texte konsumierbar machen wollte: Einweichen in postmoderner Bilderflut. Das ist unterhaltsam, aber verharmlosend. Die Bonner Inszenierung verfolgt diese Linie mit enormem Aufwand, viel Witz und großem Können. Aber es bleibt dieslebe Krankheit: Trivialbildhypertrophie.

Weitere Vorstellungen: 6., 7. und 22.Oktober