Sonderzug mit Startproblem

■ Abfahrt der ersten DDR-Flüchtlinge aus der Prager Botschaft gestern nachmittag Hunderte belagern Gleise und Bahnhöfe auf der Strecke durch die DDR

Prag/Bonn (dpa/taz) - Nach einer Nacht im Freien mußten die 10.000 bis 11.000 DDR-Flüchtlinge in Prag gestern bis zum Nachmittag auf ihre Ausreise in die Bundesrepublik warten. Nach wiederholten Verzögerungen war die Abfahrt des ersten Zuges in den Westen dann für 17.00 Uhr angesetzt worden. Für den eintägigen Aufschub der Ausreise machte Ost-Berlin „technische Probleme“ verantwortlich.

Die lagen offenbar darin, daß zahlreiche DDRler Gleise und Bahnhöfe belagerten, um auf die Züge in den Westen aufspringen zu können. Reisende aus der DDR berichteten gestern im bayerischen Hof, DDR-Bahnpolizei sichere in Kompaniestärke die Bahnhöfe. Schätzungsweise 1.500 Menschen warteten in Dresden vergeblich auf planmäßige Züge in Richtung Prag, die nicht eingesetzt worden seien. Der Zugverkehr sei völlig zum Erliegen gekommen, wurde berichtet. Polizeikräfte hätten die Menschen aus dem Bahnhof gedrängt.

Die DDR-Volkspolizei hat gestern nachmittag das Gelände vor der US-Botschaft in Ost-Berlin, in der seit Dienstag nachmittag inzwischen über 20 DDR-Bürger Zuflucht gesucht haben sollen, völlig abgeriegelt. Innerhalb weniger Minuten wurden mindestens acht Menschen, die sich in der Nähe des Gebäudes aufhielten, festgenommen. Vor der US-Mission wurden zahlreiche Straßen gesperrt. Auch in der Ständigen Vertretung der BRD in Ost-Berlin sollen sich wieder einige Zufluchtsuchende aufhalten, was dort „weder dementiert noch bestätigt“ wurde. Von sechs DDR-Bürgern war die Rede. In Polen stieg die Zahl der DDR-Flüchtlinge in Warschau am Mittwoch auf rund 400 an. Auch der Zustrom über Ungarn riß nicht ab: zwischen Dienstag und Mittwoch morgen kamen erneut knapp 500 DDR-Bürger. Mit den neuen Botschaftsflüchtlingen haben damit seit Anfang August über 40.000 Menschen die DDR verlassen.

Die DDR hat Bonn „mehrfachen Bruch des Völkerrechts“ vorgeworfen. In einer von ADN verbreiteten Erklärung heißt es, die DDR habe sich bei ihrer Entscheidung die Menschen aus der Prager Botschaft ausreisen zu lassen, vor allem durch die Lage der Kinder leiten lassen. Zu der „unhaltbaren Situation“ sei es gekommen, weil sich Bonn erneut nicht an die getroffenen Absprachen gehalten habe.

Die Bundesregierung ging gestern nachmittag davon aus, daß der Fortsetzung auf Seite 2

erste Zug tatsächlich um 17 Uhr in Prag starten würde. Der Bundesbahn-Leitstelle in Mainz sei bereits aus Prag die Abfahrt des 17-Uhr-Zuges avisiert worden. Unklar blieb gestern in Bonn, ob die mit der DDR getroffene Abmachung für alle DDR-Bürger in Prag gilt. Regierungssprecher Klein dementierte eine angebliche Äußerung Kohls, derzufolge alle in Prag befindlichen DDR-Bürger ausreisen könnten, als „Unsinn“. In dem Gespräch zwischen dem Leiter der Ständigen Vertretung der DDR in Bonn, Neubauer, und Kanzleramtsminister Seiters am Vortag sei es nur um die Flüchtlinge auf dem Botschaftsgelände gegangen. Allerdings, so Klein, gehe der tschechoslowakische Ministerpräsident Adamec von der Abreise der gesamten rund 11.000 DDR -Deutschen aus. Klein wies Anschuldigungen aus der DDR zurück, Seiters habe mit seiner Pres

sekonferenz am Dienstagabend eine Abmachung mit der DDR gebrochen, weil diese sich die erste Information an die Öffentlichkeit vorbehalten habe. Ein in Bonn kursierendes Gerücht, die Bundesregierung wolle einen deutschlandpolitischen Krisenstab einrichten, wurde gestern von verschiedenen Seiten dementiert. Die von der DDR eingeführte Visa-Pflicht gegenüber der Tschechoslowakei kommentierte der CDU-Politiker Dregger gestern so: Wenn „Mitteldeutschland“ jetzt auch gegenüber dem Osten eingemauert werde, habe „die SED-Clique endgültig ihr Verfallsdatum überschritten“.