Fehlende Knete, schlappe Reform

Auf dem 21.Jugendgerichtstag in Göttingen wurde ein humanerer Vollzug angemahnt  ■  Von Julius Kolb

„Für die meisten Jugendlichen ist das Delikt nur eine Episode.“ So lausbubenhaft a la Ludwig Thoma die Jugendkriminalität sich in der Informationsschrift der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen (DJVV) zum 21.Gerichtstag lesen mag, so alptraumhaft spielt sich die Wirklichkeit in den Jugendknästen ab. Selbstmorde in Jugendvollzugsanstalten, Zerstörungswut, Desillusion und Rückfallquoten von über 60 Prozent in den ersten sechs Monaten nach der Entlassung: die 800 Juristen, Psychologen, Sozialpädagogen, Polizisten und Bewährungshelfer waren sich schon vor ihrer Abreise nach Göttingen darüber einig, daß der praktizierte Umgang mit der Jugendkriminalität am Ende ist.

Reformansätze gibt es genug. Das noch aktuelle Jugendgerichtsgesetz ist in die Jahre gekommen. Die letzte Novellierung wurde 1953 vorgenommen, seit 1980 wird ein Reformversuch im Bundesjustizministerium von einem Staatssekretär zum anderen weitergereicht. Jetzt liegt die Neuauflage dem Bundesrat zur Diskussion vor, doch die könnte man sich im Prinzip schenken. Denn seit Anfang der 80er Jahre haben die Jugendgerichte ihre Praxis deutlich geändert: Helfen statt einsperren heißt seitdem die Devise. So ist zwischen 1982 und 1987 die Zahl der „abgeurteilten Jugendlichen“ zwischen 14 und 21 Jahren um 30 Prozent zurückgegangen. Gleichzeitig wurde deutlich weniger Untersuchungshaft angeordnet.

Die Jugendkriminalität ist zurückgegangen - Erfolg also auf der ganzen Linie? Nicht ganz. Im neuen Jugendgerichtsgesetz werden die Erfahrungen der Praktiker nur ansatzweise übernommen. Sogar der niedersächsische Justizminister Walter Remmers (CDU), früher selber Jugendrichter im Emsland, übte Kritik in Richtung Bonn: „Der Gesetzesentwurf geht nicht so weit, wie es die Jugendrichter fordern. So wäre eine weitergehende Einschränkung der Untersuchungshaft für 14-, 15- und 16jährige eine bessere Lösung gewesen“, sagte er während der Eröffnungsveranstaltung am vergangenen Samstag. Doch minderjährige Straftäter haben in Bonn keine Lobby.

„Die schrittweise Reform der jugendstrafrechtlichen Praxis ist der richtige Weg“, lobte auf der Eröffnungsveranstaltung Rita Süssmuth die angereisten Richter. Doch welche Wege die Jugendrichter auch gehen, machte Christian Pfeiffer, Direktor des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und erster Vorsitzender der DJVV klar. Denn bei den Jugendgerichten macht sich seit geraumer Zeit ein zunehmend ausländerfeindlicher Trend breit: Obwohl der Anteil der straffälligen jungen Ausländer weit unter dem Bundesdurchschnitt liegt, werden sie weit häufiger in U-Haft gesteckt oder kommen hinter Gitter. So stieg in Rheinland -Pfalz der Anteil den wegen schweren Diebstahls verurteilten Ausländern von zehn auf 14 Prozent. Der Anteil der deutschen Jugendlichen ging im gleichen Zeitraum um elf Prozent zurück.

In den insgesamt 15 Arbeitskreisen, die Themen wie Wege aus der Sucht und Alternativen zum Freiheitsentzug diskutierten, war man sich einig: Die eingeschlagene Linie muß weiterverfolgt werden. Doch wie das bei den Finanzkürzungen sinnvoll zu erreichen sei, wußte niemand. Sogar die DVJJ mußte wegen Geldknappheit 100 Anmeldungen zurückweisen.

Etwas Neueres kam aus dem Arbeitskreis zum „Täter-Opfer -Ausgleich“. Hier einigte man sich darauf, daß die Begegnung zwischen Straftäter und Opfer nicht nur bei Bagatellfällen eine aufklärende Wirkung für alle Beteiligten haben könne. Denn genauso wichtig wie die Verarbeitung der Schuld, so ein Sprecher des Arbeitskreises, sei die Bereitschaft des Geschädigten, sich mit dem Täter als Menschen zu befassen, um Vorurteile abzubauen.

Von dem Arbeitskreis „Aggressive Gruppen“ hatten sich die Teilnehmer mehr erhofft. Doch diese Runde ging ohne greifbare Ergebnisse auseinander, auf ein Thesenpapier wurde im Gegensatz zu den anderen Arbeitskreisen verzichtet. Den sogenannten aggressiven Gruppen, zu denen die Veranstalter Neonazis, Fußballrowdies, Skins, Punks sowie Autonome zählten, standen die Spezialisten ratlos gegenüber - immer noch. Eine extra für diesen Arbeitskreis angereiste Gruppe Punks aus Berlin brachte es auf den Punkt: „Was haben die mir hier zu bieten? Bei soviel Helfersyndrom von psychologischen Seelentröstern fehlt jeder Funke Selbstkritik.“ So schockierte einer die Runde, die sich eher auf beschauliche Analysen „sozialwissenschaftlicher Erklärungsansätze“ eingestellt hatte. Einzige Erkenntnis der Fachleute: mit den humanistischen Idealen vom Erziehen zu gesellschaftlich wertvollen Menschen kommen sie nicht weiter. Außer den üblichen Erklärungsmustern von Jugendarbeitslosigkeit über kaputte Elternhäuser mußten die Teilnehmer nach einer internen Umfrage feststellen, daß sie über die „verordneten Beziehungen“ im Berufsalltag hinaus mit Jugendgruppen in den vergangenen zwei Wochen gerade mal „zwei Minuten“ Kontakt hätten.

Etwas dürftig für soviel therapeutische Ausbildung. Mit Betroffenheit und Ignoranz - gerade bei einigen Polizisten in dem Arbeitskreis „Aggressive Gruppen“, die nicht einsehen wollten, wozu sie ihren Kopf hinhalten, wenn Richter die Gruppenmitglieder am nächsten Tag wieder laufen lassen, verwies man das Problem wieder dahin, wo es herkam: auf die Straße.