Kritische Fragen

■ Fernando Morais‘ Buch „Olga, das Leben einer mutigen Frau“

Den folgenden Brief schickte der Verfasser an den Verlag der deutschen Ausgabe von Fernando Morais‘ Biographie von Olga Benario. Eine Kopie ging an uns. Wir bringen sie hier gekürzt - unseren Lesern zur Kenntnis:

„Sehr geehrte Damen und Herren,

aufgrund einer Besprechung in der taz vom Mittwoch 21.6.1989 habe ich ein Exemplar des oben genannten Buches erworben.

Als früherer Berliner, der im Stadtteil Neukölln sowohl zur Schule ging (Karl-Marx-Schule), als auch vor 1933 in dem KJV politisch tätig war, interessierte mich das Schicksal von Olga Benario sehr. Während meiner politischen Arbeit im KJV Neukölln - bevor ich Ende 1932 wegen meiner harten Kritik an der Stalinisierung der KPD ausgeschlossen wurde - war oft von Olga Benario die Rede. Ich bin zwar einige Jahre jünger als sie heute gewesen wäre, jedoch kann ich mich noch sehr genau an die spektakuläre Gefangenenbefreiung von 1928 erinnern. Auch die B.Z. am Mittag ist mir lebhaft in Erinnerung.

Nun zum eigentlichen Grund meines Schreibens: Olga Benario hätte eine bessere Biographie verdient. Es ist unmöglich, alle Fehler historischer, politischer, geographischer und stilistischer Art aufzurechnen, die in diesem Buche vorkommen. (...)

Hier einige Beispiele der vielen Fehler:

Seite 41: Einen „Reichskommissar für Überwachung der öffentlichen Ordnung in Leipzig“ gab es in der Weimarer Republik nicht. Auch nicht 1927.

Auf Seite 50 läßt der Verfasser einen Berliner Juden „nach einemLandsmann mit jüdischen Zügen“ suchen - in Moskau -, weil „schließlich ist das Jiddische mit dem Deutschen verwandt, und wenn ich hier einen Landsmann treffe, dann kann ich mit ihm einige Worte wechseln“. Warum soll er eigentlich nicht mit einem „Landsmann“ einige Worte Deutsch sprechen können?

Auf Seite 53 läßt Morais Walter Ulbricht schon 1931 im Exil in Moskau leben - neue historische Erkenntnisse!

Auf Seite 59 gibt es, wie auf vielen Seiten, mehrere Merkwürdigkeiten: Was ist eine vollendete Bolschewistin? Erkennt man sie am Aussehen? Auch hofft sie dort - 1934 auserwählt zu werden, den „Kampf der KJ in Berlin gegen die Nazis anzuführen...“ Weder existierte 1934 eine KJ mehr in Deutschland noch führte sie irgendeinen Kampf. Auch die folgenden Sätze sind reine südamerikanische Romantik.

Auf Seite 63 läßt Morais ein reines Wunder geschehen: Olga und Prestes „erreichen Kopenhagen und setzen ihre Reise mit dem Schiff bis in den Hafen von Birmingham fort“. Wo ist dieser Hafen bis heute verblieben?

Wenn dann auf Seite 64 aus Brüssel - immerhin schon 1934 mit Vororten fast eine Millionenstadt - „eine relativ kleine Stadt“ wird, ist es selbst mit brasilianischen Augen grober Unfug.

Auf Seite 78 wird Ewert 1923/24 in die Zentrale der KPD gewählt, um dann 1925 ins Zentralkomitee der Partei gewählt zu werden. Wo ist der Unterschied?

Auf Seite 80 besteht Ewert darauf, daß die Kommunistische Partei - 1928 (!) - mit den Sozialdemokraten „ideologisch brechen“ sollte... Hatten sie je eine gemeinsame Ideologie? Und so geht es weiter, fast Seite für Seite. (...)

Zum Schluß in der Reihe der Fehler noch zwei grobe Anachronismen:

Seite 283: Hier spricht die Gestapo im Jahre 1937 (!) von Olga Benarios Mutter, einer Volljüdin, von einer guten Deutschen! Außerdem läßt der Verfasser Olgas Mutter in München in einem herrschaftlichen Haus mit Bediensteten wohnen, wie es damals für Juden einfach nicht mehr möglich war.

Daß Morais auf Seite 307 Hitler schon vor April 1938 sowohl Österreich als auch das Sudentenland annektieren läßt, kann man wohl nur der großen Entfernung Brasiliens von Europa zuschreiben... (...)

Ein paar letzte Beispiele:

Seite 324: „Für die anderen Frauen im Lager hat man sich eine mildere Strafe ausgedacht: Sie müssen drei Tage ohne Essen auskommen. Zu den Mahlzeiten erhält jede nur einen Becher Wasser.“ Haben die Frauen früher Bier zu den Mahlzeiten erhalten oder erhalten sie Wasser anstelle der Mahlzeiten, Frau Übersetzerin?

Der Mai des Jahres 1940 vergeht, erst dann bereitet sich Hitler auf Seite 325 darauf vor, sein nächstes und wichtigstes Ziel endlich in Angriff zu nehmen: Die Besetzung Frankreichs! Ein weiterer Anachronismus: Bekanntlich begann der Angriff auf Frankreich am 10.Mai 1940 - Ende Mai war Frankreich so gut wie geschlagen. (...)

Mit freundlichen Grüßen

Norbert Ernst“