Wir schreiben das Jahr Null

Hinter den Medienbildern von den Flüchtlingen aus der DDR steht alles andere zurück  ■ G A S T K O M M E N T A R

Oh lieber Gott im Himmel, hör mich beten ...“ (Wolf Biermann). Es wird nichts helfen. Die Berichterstattung und die Kommentare über den als Exodus beschworenen „Auszug“ („Er ist hinüber, enfant perdu, ach kluge Kinder sterben früh ...“) aus der DDR signalisieren durch die Bank weg, daß in unserer demokratischen Republik der offenbar latente Hang nach rechts vor allem eines einschließt: einen Antikommunismus und Antisozialismus, der sein Vorbild im kältesten Krieg der 50er Jahre findet. Die „Befreiung“ der Brüder und Schwestern aus den Fängen des angeblichen „Staatsgefängnisses“ DDR wird - und zwar von konservativen bis hinein in liberale Medien - geschildert, als sei es „uns“ gelungen, den Untergang des gesamten deutschen Volkes zu verhindern.

Wer die „Kriegs„berichterstattung in den Medien verfolgte, mußte den Eindruck gewinnen, als seien mit der Ankunft der DDR-Bürger hierzulande, in langen Waggons der Deutschen Reichsbahn, Tausende Menschen vor ihrer geplanten Deportation gerettet worden. Der Held der Arbeit, über Jahrzehnte geknechtet, der Freiheit beraubt, mundtot gemacht und unter Südfrüchteentzug leidend, wurde vom Held des gesunden Volksempfindens erlöst. Der Bundeskanzler schoß den Weg frei wie einst Wilhelm Tell den Apfel vom Kopf des Jungen - und macht bereits Totgeglaubte lebend. Sein Ansehen steigt.

Der Globus, das wird in diesen Tagen deutlich, gehört nicht dem Warschauer Pakt und nicht der Nato, er gehört nicht dem Kampf um ein vereinigtes Europa und schon gar nicht dem Kampf lateinamerikanischer Völker um eine Zukunft ohne Diktaturen. Im Mittelpunkt der Welt steht, dies haben wir, und allen voran die Medien unzweifelhaft deutlich gemacht, Deutschland, und wenn nicht einem vereinten, dann dem starken, übermächtigen, freien Teil: der Bundesrepublik. Alle anderen Konflikte der letzten Jahre auf diesem Erdball waren - berichterstattungsweise - nicht mehr als ein Intermezzo, oder besser: ein Vorspiel, featering BRD gewissermaßen. Wir haben es wieder geschafft. Gold für Deutschland. Wir sind wer.

Was sind hungernde Kinder in der Dritten Welt, was erschossene Demokraten in Chile, was niedergebrannte Palästinenserdörfer gegen die kauernde Masse jener wirklich unterdrückten Menschen, die sich murrelos in ihr Schicksal begeben hatten, im Schacht DDR hockten wie eingeschlossene Bergarbeiter, zwar Lebenszeichen von sich gebend, aber auf unsere Hilfe angewiesen. Das Bildmaterial ist erdrückendes Zeugnis von wirklicher Unterdrückung. Es ist Zeit für eine neue Zeitrechnung. Wir schreiben das Jahr Null, oder die Stunde Null, die neue Stunde Null. Jesus Christus war ein erbärmlicher Erlöser gegen Helmut Kohl.

Andreas Werner, Lokalredakteur der 'Frankfurter Rundschau