„Uns allen hier ist zum Kotzen zumute“

In Ost-Berlin geht vor den Feierlichkeiten zum 40.Jahrestag der DDR das China-Syndrom um / Spannung und Frust auch unter denen, die aus Überzeugung bleiben / Respektlosigkeit gegenüber der Staatsmacht, aber auch Angst vor Repressionswelle  ■  Von Tobias Lehmann

Berlin-Ost (taz) - „Zeitweilig“, so die offizielle Sprachregelung, hat die DDR-Führung den visafreien Verkehr mit der Tschechoslowakei ausgesetzt. Aber auch schlecht Ding kann manchmal Weile haben, weiß der 37jährige Hauptstädter Karsten. Er hat sich aus einem Archiv die (Ost-)'Berliner Zeitung‘ vom 14.August 1961, dem ersten Tag nach dem Mauerbau, besorgt und holt den vergilbten Schnipsel aus der Schublade: 'Der S-Bahnverkehr zwischen West- und Ost-Berlin ist seit gestern zeitweilig unterbrochen‘, hieß es damals auch. Damals wurde die Begründung für den Mauerbau noch von vielen geschluckt, die sich auch darüber ärgerten, daß die West-Berliner mit billigem Schwarzmarktgeld ihre Läden leerkauften. Aber heute? Auch von den Parteimitgliedern an der Basis glaubt kaum jemand mehr den amtlichen Versicherungen über die „Zeitweiligkeit“ der Maßnahme. Selbst Edith, die als Künstlerin das Privileg eines Passes besitzt und jederzeit nach West-Berlin kann, hat die Panik erwischt: „Ich mußte heute einfach schnell für eine halbe Stunde rüber, um zu sehen, ob sie mich noch lassen.“

Jeder und jede ist stündlich auf irgendeine Horrormeldung gefaßt. Als bei Karsten das Telefon klingelt und sich ein Freund mit „Ich bin in West-Berlin“ meldet, kann er, der bewußt bleibt, dem Anrufer nur noch trocken „meinen Glückwunsch und gleichzeitig mein Bedauern“ aussprechen. In diesem Fall war der Anruf ein schlechter Scherz - irgendwie müssen sich ja Spannung und Frust dieser Tage Luft machen. „Man müßte Nierenschalen in den Straßen aufstellen, so sehr ist uns allen zum Kotzen zumute“, sagt Angelika.

Jetzt geht auch unter Parteileuten, die aus ihren „Grundorganisationen“ immer drängendere Resolutionen nach oben schicken, Sarkasmus um. „Wann kommt die Wiedervereinigung“, fragen die GenossInnen? Antwort: „Wenn Erich stirbt. Dann erbt seine Schwester im Saarland das Grundstück.“ Ohnmacht angesichts der alten Riege im Politbüro, die das Land wie ihr persönliches Eigentum regiert.

Vor zwei Tagen, erzählt Karsten, sind zwei Mitarbeiter des ZKs in der Kunsthochschule Weißensee gewesen, um mit den dortigen Parteimitgliedern zu diskutieren. “'Schickt uns ruhig weiter Resolutionen, wir haben schon Waschkörbe voll davon. Das beeindruckt uns gar nicht‘, haben die gesagt.“ Die Welle von Resolutionen stockt trotzdem nicht: Das „Puppentheater Berlin“ hat eine verabschiedet, alle Berliner Sprechtheater haben eine gemeinsame Erklärung verfaßt, das Maxim-Gorki-Theater und das „Berliner Ensemble“ haben schon angekündigt, sie vor jeder Vorstellung zu verlesen.

Wer in Ost-Berlin die bisher öffentlich gemachten Aufrufe kennenlernen will, der geht dieser Tage in die Gethsemanekirche am Prenzlauer Berg. Dort wandert eine Menschentraube von einer Stelltafel zur anderen: Vom Neuen Forum über die Vereinigte Linke bis hin zu den „transradikalen“ Spontis, die sich „Die fröhlichen Friedrichshainer“ nennen und „gegen das Trübsalblasen“ angehen wollen, sind alle vertreten.

Auf dem Vorplatz der Kirche brennen Dutzende von dicken Altarkerzen: Alle zwei Stunden lösen sich hier junge Leute bei einer Mahnwache „für die unschuldig Inhaftierten“ von Leipzig ab. Seit Montag finden täglich Fürbittgottesdienste statt, zum ersten kamen rund 150 Leute, am Dienstag waren es doppelt soviel, und am Mittwoch abend ist der rote Backsteinbau einschließlich Empore mit 700 bis 800 Menschen gefüllt. Längst geht das Publikum über die sprichwörtliche Prenzelberg-Szene hinaus. Die Leute aus den umliegenden Geschäften helfen mit Teegläsern aus, die Bauarbeiter vom Gethsemane-Platz bringen Bockwürste für die Wachenden, und niemand stört sich mehr an den „Schnittlauchen“, wie die Grünuniformierten genannt werden, die sich nebst fotografierenden Zivis an den Straßenecken herumtreiben. Die Angst vor der Staatsgewalt - hilflos, wie die sich in diesen Tagen zeigt - ist weggeblasen. An ihre Stelle tritt die Angst vor dem, was kommt. Das China-Syndrom geht um. Kettenpanzer mit montierten Raketen, die am Mittwoch abend durch die Hauptstadt rollen, um für die Jubel-Militärparade zu proben, tragen nicht gerade dazu bei, die Menschen zu beruhigen. Auch daß seit zwei Wochen Betriebskampfgruppen nicht nur Geländemärsche, sondern auch Handschellenanlegen und das „Sperren und Räumen von Plätzen und Straßen“ im Übungsprogramm haben, schafft ebenso Verunsicherung wie die Tatsache, daß die Stasi-Patrouillen - zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt - wieder Anweisung haben, sich nur noch mit Dienstpistole auf die Straße zu wagen.