Es war einmal in Bremen

■ Bernhard Gleim, Johann-Günther König, Til Mette: „Goethe und die Heringe aus Bremen“

Was hat der Bremer Bleikeller mit der Entwicklung der Psychoanalyse zu tun? Und welche Teile von Goethes dichterischem Werk wären ungeschrieben geblieben, hätte nicht Nikolaus Meyer, ein Bremer Arzt, den Geheimen Rath mit Bremer Heringen, Austern und anderen Bremer Spezereien verköstigt? Wo ist das Totenhemd geblieben, das die Bremer Giftmörderin Gesche Gottfried bei ih

rer Hinrichtung getragen hat? Was ist das „Bremer System“ und woher hat die Helenenstraße ihren Namen? Ach, überhaupt: An wievielen Zeugnissen Bremer Geschichte stolpert man Tag für Tag vorüber und weiß nichts von den kleinen Geschichten, die hinter der großen Geschichte vorlinsen und darauf warten, erzählt zu werden?

Aber mit dösigem Drüberweg

stolpern ist jetzt erst mal Schluß - seit es das Buch „Goethe und die Heringe aus Bremen“ gibt, in dem zwei Bremer, Bernhard Gleim und Johann-Günther König, „Neue Geschichten aus einer alten Hansestadt“ erzählen. Sie haben die Geschichten ursprünglich für den Heimatfunk von Radio Bremen geschrieben, wo sie in der Reihe „Knaken un Plünnen“ gesendet wurden. Und eigentlich riecht sowas immer nach Zweitverwertung. Das kann man zwar den Autoren gönnen, die ihre Ohr-rein-Ohr-raus-Arbeit fürs Radio auch in haltbar gedruckter Form vertreiben wollen; aber oft fangen Radio -Texte zwischen Buchdeckeln erst richtig zu müffeln an nach dem flüchtigen Medium, für das sie besser taugten als für „das gute Buch“. Doch für die Bremer Geschichten von Gleim und König trifft genau das nicht zu: Die Radio-Geschichten waren ein Ohrenschmaus, das Buch ist ein Vergnügen für die Augen. Die Transformation vom einen Medium ins andere ist die vom Audiophilen zum Bibliophilen.

Das liegt zunächst mal, auf den ersten, zweiten und dritten Blick, an den Illustrationen von Til Mette. Sie geben, mit ihrem verknurzten, wie durchs Fischauge gesehenen, historisch-skurrilen, prägnant aufs Allernötigste konzentrierten Strich den bremischen Geschichten noch zusätzlich einen selbstironisch-lokalpatriotischen Kick. Meine Lieblingszeichnung ist die zur Geschichte

des Märtyrers Heinrich Zütphen (Bernhard Gleim): Der Lutheraner kam 1522 ins damals noch katholische Bremen und predigte in der Ansgarikirche, die so überfüllt war, daß einige Bremer Leitern an die Kirchenmauern stellten, um den Prediger wenigstens durchs Fenster sehen zu können. Es hat etwas zum Rühren Komisches, wie Til Mettes Bremer - ein Häuflein entschlossener Protestanten-Silhouetten - zu Füßen ihrer langen Leitern beratschlagend und nach oben blickend wider den Stachel der katholischen Herrschaft löcken.

Auch die Geschichten selbst sind weitgehend frei von enger Provinzialität. Sie bleiben zwar ganz im Bremisch-Kleinen, aber ein weltmännischer Hauch von Ironie bewahrt sie vor kleinkarierter, heimattümelnder Nettigkeit. Freilich gilt das in dieser Entschiedenheit vor allem für die Geschichten von Bernhard Gleim. Er beherrscht die Kunst, kleine Begebenheiten so zu erzählen, daß sie zwischen Skurrilität, hinterlistigem Witz, geistreichen Pointen und lakonischer Logik schillern. Gleim schlendert mit ausgefeilt beiläufigem Stil durch seine Geschichten und teilt im Nebenbei-Ton seine treffenden Deutungen mit: „Der Zar kommt! Das Protokoll arbeitet auf Hochtouren. Am Aufwand soll der Gast erkennen, wie wichtig seine Gastgeber sind.“

Wo aber bei Gleims Geschichten die Pointen sitzen - am Schluß - , haben die Geschichten

von Johann-Günther König meist eine etwas hölzerne Moral („so darf man schlußfolgern...“); und wo Gleim seinen intellektuellen Eros spielen läßt, wird König vom Eros der Pädagogik heimgesucht und muß den Zeigefinger heben, wie beim Denkmal der „Bremer Stadtmusikanten“: „Ob der stumme Alarm, den sie dort Tag und Nacht blasen, der amerikanischen Hackfleischbraterei gegenüber gilt?“

Anders als Gleim, der lustbetont erzählt, erteilt König „kritischen“ Geschichtsunterricht, ein bißchen steif um Lockerheit bemüht. Warum auch nicht? Ich aber laß mich nicht so gern belehren. Ich laß mir lieber was erzählen.

Sybille Simon-Zülch

„Goethe und die Heringe aus Bremen“, Schünemann 1989, 22 Mark.