Nichts wie weg hier!

■ Überwintern in der Fremde: Wenn es zu Hause in schneematschigen Städten zu trist wird, fliegen sie davon - in die Sonne gen Süden oder in exotische Länder auf der anderen Seite der Erde.

BERND MÜLLENDER berichtet aus dem Kreis der Winterflüchtlinge

ch kenne jemanden, den dürfte ich eigentlich gar nicht mehr kennen. Kaum ist er da, ist er schon wieder weg. Ich glaube, er heißt Gerhard. Er überwintert in Neuseeland, weiter weg geht es nimmermehr. Jedes Jahr für ein halbes Jahr. Bei den Kiwis, in dem Land, wo Milch und Honig fließen. Dort ist es schön. So natürlich noch, und so menschenleer. Voll von Natur das Land, und während unserem grausligen Winter lacht dort die Sonne hemmungslos.

Gerda schafft's nur bis Australien. Aber immerhin: dort ist es ja auch schön. Vor allem noch wärmer. Und abseits der Küstenmetropolen noch leerer. Zeit und Raum für Besinnung. Und die Ureinwohner sind noch uriger. Zuhause, lacht Gerda ein immer bißchen spöttisch, zuhause heizen sie doch wie die Verrückten gegen Frost und Frust an. Wer da mitmacht, ist doch letztendlich auch schuld an der Atomenergie. Diese Verschwendung, und was das kostet. Gerda rechnet jedem und jeder vor, daß sie für das gesparte Geld schon beinah das halbe Flugticket bekommt (Graumarkt, noch keine Zweifünf).

Gerd ist noch cleverer. Seit Jahren schon. Er vermietet seine Wohnung weiter. Gute Erfahrungen hat er gemacht. Bei dieser üblen Wohnungsnot derzeit ist das zudem noch ein kleiner Akt der Solidarität mit den Mitmenschen. Für 300 im Monat. Nein, leerstehen lassen, das wäre doch schon Entmieterung. Gerd fährt immer noch nach La Gomera, so für zehn bis zwölf Wochen, wenn es hier am allerübelsten schneeregnet. So schlimm sei das mit all den vielen Lehrern und Sozialarbeitern dort auch wieder nicht. Ja sicher, andere sind schon längst nach La Palma nebenan, und da auch schon nicht mehr, weil die Palmeros den blöden Touristen die Bude abgefackelt haben. Nein, Gerd bleibt seinem Valle treu, da ist es wie zuhause, und im Winter, wo daheim alle ausgeflogen sind in die weite Welt, kann man sie hier wenigstens wiedertreffen, die ganze Szene aus der Heimatstadt. Und richtige Einheimische kennt er auch schon. Per Du, beim vino.

ein, wir fahren nicht mehr einfach weg. Sondern wir bleiben weg. Dreiwochenurlaube sind spießig, wir entfliegen, zur Wintervermeidung, mindestens für Monate. Aber zuerst wird eifrig Kohle gemacht: Nebenjob, Überstunden, Zusatzschichten. Wenn nötig, unbezahlten Urlaub nehmen. Man weiß ja wofür. Vor allem, wofür nicht: für Bausparverträge, Zweitfernseher, Drittrecorder, und noch ein Gericht beim Pastadreher. Das klare Ziel vor Augen, die tolle Reise, dabei kann man ruhig den Sommer hier ein bißchen verpassen (kennen wir doch alles: verchlorte Schwimmbäder, volle Baggerseen, mißhandelte Alpen, verpestete Straßen, und im Wald gehts zu wie in der Einkaufszone). Dann aber: nichts wie hin zur Startbahn West, und ab in den Süden. Let's go sunwards.

Früher wurde es als Problem empfunden, daß sich die gute alte Erde immer so herumwindet und dreht, so daß zwangsläufig ein Winterhalbjahr dabei ist. Als kalter Preis für den Sommer. Heute sehen wir das als Chance. Schließlich ist es irgendwo immer Sommer. Wo kann man besser überwintern als in der Sonne? Du, ich bin jetzt in Sri Lanka. Nein, nicht schon wieder Nicaragua, das ist doch langweilig wie die DDR, erst recht jetzt ohne die Contras wie früher. Du, oder Thailand, im Norden, du, da gibt's Flecken, da bist du echt der Erste.

Gerald schwört auf Brasiliens Süden. Wenn's kühler wird im Februar, nimmt er einfach den Flieger ein bißchen hoch nach Norden. Besuchen Sie den Urwald solange er noch steht. Nein, Südsee macht er schon lange nicht mehr, viel zu zivilisiert. Da gibt's Cola selbst im kleinsten Nest. Dazu noch pißwarm. Auf Tahiti haben sie zwar gepflegte französische Eßkultur, tolle Baguettes wie bei uns bei Chez Cherie um die Ecke. Aber kaum bist du damit auf der Straße, schlaffen die Dinger total ab, in Minutenschnelle, und hängen dir überm Arm wie ein Fahrradschlauch. Das Wetter kann's auch übertreiben. Gerald findet das geradezu sinnbildlich für die imperialistischen Franzosen. Er fährt höchstens noch nach Tonga, wo er beim beliebten und beleibten König und seinen Untertanen nicht trotz, sondern wegen seiner vollschlanken 103 Kilo endlich mal bewundert wird.

Langzeitreisen, egal wohin, bieten alle Vorteile. Am anderen Ende der Welt zu sein, akzeptiert auch die liebevollste Mutter als glasklares Argument, warum man am nächsten Wochenende schon wieder nicht am familiären Puterrollbraten partizipieren möchte. Und Weihnachten, jedes Jahr dieselbe Leier, immer im Kreis der Tanten und der Trabanten: das Thema ist ausgestanden. Onkel Hubert wird 70 im Januar: die Karte aus Goa sei ihm gegönnt. Beziehungsstreß? Der Typ kann einfach nicht von dir lassen, und trotzdem tut er nichts für Euch, setzt sich nicht auseinander, der feige Verdränger? Also bitte, da ist das Auseinanderfliegen für reichlich ein Quartal doch die allerbeste Lösung. Für beide. Eine echte Entscheidung. Dank Manila oder Angela, dank George oder Georgetown.

udem bilden Fernreisen ungemein. All die fremden Kulturen. Der Kontakt zum einfachen Menschen dort. In wenigen Wochen kann man sich doch gar nicht richtig einfühlen. Zehn versoffene Abende im „Exil“ nebenan sind nichts gegen ein einziges herrlich wässriges Bier mit dem peruanischen Indio in der Hängematte. Erzählt Gregor. Ach, das Portemonnaie war nachher weg, sicher rausgerutscht, man ist, futongehärtet, das Schlafen in diesen Schaukeldingern ja auch nicht so gewohnt. Aber mit der Kreditkarte kann der Gute ja nichts anfangen. Und die paar fehlenden Dollar, sagt Gregor, täten ihm nicht besonders weh.

Wir nehmen auch nicht mehr unbedingt den Rucksack, nachher werden wir noch für ärmelnde Studenten gehalten. Wir trotten auch nicht mehr über den Globus, wie das früher hieß. Wir fliegen einmal rund. Mit dem Round-The-World-Ticket: Das Inter-Rail für die Generation danach. Mit zehn Stopovers und ein volles Jahr gültig. Und wenn wir wirklich mal keinen Bock mehr haben, ab in den nächsten Flieger. Weiter als 36 Stunden Flugzeit können wir nie weg sein von zuhause. Mit dem Auto vom Peleponnes nach Berlin dauert es länger. Sollen uns die Zurückgebliebenen doch Gelegenheits-Auswanderer nennen oder Reise-Imperialisten oder Kolonialisten auf Zeit oder Freizeit-Flüchtlinge. Wir ziehen aus, um uns auszuziehen, während die „Anderen“ sich warmzittern im Graupelregenschauer.

Gesa, arbeitslose Sozialarbeiterin, übernimmt in der Ferne psychohygienische Arbeit: Sie hilft nicht nur in der Schreinerei der ausgewanderten Ex-Freunde im zimbabweschen Busch, sondern sie erzählt dort immer wieder, wie schrecklich alles in Deutschland ist. Das hören die Geflohenen (Tschernobyl) immer wieder gerne. Das bestärkt sie in ihrem mutigen Entschluß immer wieder aufs Neue. Grit ist jetzt schwanger. In diesem Jahr fällt ihr Trip aus. Aber 1990 geht es mit dem Kind los. Unter 2 Jahren fliegen die umsonst. Das muß man nutzen.

Die Möglichkeiten sind noch lange nicht ausgereizt. Manche finden unsere Winterflucht schon zu gewöhnlich. Gila etwa fährt immer von Mitte September bis Ende Oktober in die Rocky Mountains. Genau zu der Zeit, in der hier das Laub sich verfärbt, und wir genau wissen, jetzt wird es aber bald allerhöchste Eisenbahn für den Jet. Sie fährt nach Kanada wegen der Laubfarben. Dort heißt das Verfärben und Verwelken „Indian Summer“ und ist viel romantischer als hier. Es ist das gleiche in ehemaligem Grün, aber schon dieser mythenumwaberte Begriff „Indian“ erweckt ihre volle Solidarität mit dem niedergemachten Volk und „Summer“ ist zwar eigentlich ein Herbst, aber laut Lexikon ist „summer“ ganz klar ein Sommer. Im Mumienschlafsack auf dem 3000er den Schneesturm durchzittern, das ist echt alternativer Sommer. Und der Schnee dort sei noch viel weißer als der im verrußten Europa. Echt weiß. Neulich erklärte Gila, sie könne jetzt in Ansätzen sogar das weißeste Weiß aus der Waschmittelreklame nachvollziehen. Reisen bildet.

isbert hat jetzt einen Anruf von seinem Freund Gerhard aus Neuseeland bekommen. Im Land, wo Milch und Honig fließen, herrscht, habe Gerhard traurig gesagt, nackte Angst vor dem Ozonloch über der Antarktis, das sich mittlerweile zur Größe der USA ausgewachsen hat. Sich Auszuziehen wird immer seltener, auch bei 30 Grad. Weil die Hautkrebsrate in die Höhe schnellt. Gisbert, sonst als kompromißloser Süd-Sommer -Sonne-Typ bekannt, hat die Konsequenzen gezogen. Er macht jetzt alles umgekehrt: Im Juni nach Nordnorwegen, im Juli zum Pol, im August dann spätestens nach Sibirien auf die Kolchose. Er trampt an der Flugpiste, ganz stark sei das: mit Buschpiloten. Echt anders. An Land nimmt er höchstens noch den Hundeschlitten. Sonne hat er da oben rund um die Uhr, weniger intensiv zwar, aber deutlich ozongebremst. Gesunde Sonne, wie früher. Gisbert ist ganz begeistert, Sibirien, besonders die Inseln Novaja Semlja und Sewernaja Semlja mit dem idyllischen Kap Molotow, seien einfach der Geheimtip. Später, wenn das Eis überhand nimmt, geht er runter bis Jakutsk.

Gisbert, gerade zurückgekehrt, findet die Einsamkeit auf Dauer aber etwas unkommunikativ. Zudem, so ist er überzeugt, würden viele nach der mitteleuropäischen Sonnenstrahlen -Inflation '89, von der ihm alle so begeistert erzählt haben, auf den Fluchttrip in den nächsten Monaten verzichten. Aber ganz hierbleiben geht natürlich auch nicht: wo kämen wir denn da hin?! Nirgends.

Und deshalb will Gisbert jetzt ein Reisebüro für Gleichgesinnte statt Gleichgesonnte gründen. Schwerpunkt: Übersommern.