Von Engeln, Linien, Infernen

■ Paul Klee - Späte Zeichnungen von 1939 in Essen und Kassel

Der Engel will das Glück: den Widerstreit, in dem die Verzückung des Einmaligen, Neuen, noch Ungelebten mit jener Seligkeit des Nocheinmal, Wiederhabens, des Gelebten liegt.“ (Walter Benjamin, Agesilaus Santander, Ibiza 13.8.1933)

Wer muß bei Bildern von Paul Klee nicht zuerst an diese Lesebuch-Farbtafeln zwischen Borcherts Hundeblume und Rilkes Panther denken? Fein ziselierte und kolorierte Bilder mit Spuren von Gegenständlichkeit, wie geschaffen für metaphernreiche Bildbeschreibungen, an deren Korrektur sich ältliche Deutschlehrer ihre Kunstsinnigkeit bewiesen. Das Feinsinnige, pingelig Genaue in der Zeichnung, dazu die abgestimmte, kalkulierte Verteilung der Farben sollte wohl einen ordnenden pädagogischen Einfluß auf den Betrachter ausüben. Das Gewicht solcher und ähnlicher Rezeption liegt auf den Arbeiten bis 1933, als Klee von der Düsseldorfer Akademie vertrieben wurde. Das Spätwerk ist bisher kaum gezeigt und wenig erforscht worden.

Das Folkwang-Museum zeigt nun eine Auswahl von 117 Zeichnungen aus dem Konvolut von 962 Blättern, die im Jahre 1939 entstanden sind: „So viele habe ich nie gezeichnet, und nie intensiver...“, schrieb Klee am 2.1.1940 an Willi Grohmann, mit dem er bereits ein Buch über die frühen Zeichnungen herausgegeben hatte, was aber 1934 in der gesamten Auflage eingestampft worden war. Diese Briefstelle ist auch das Motto unter dem diese außerordentlich gelungene Ausstellung steht.

Im wesentlichen sind es vier Gruppen, die vorgestellt werden: Der Inferne Park, die Näherungen, Landschafts- und Figurenbilder und die Engel. In keiner der Zeichnungen geht es mehr um einen empirisch überprüfbaren Gegenstand oder Abbilder. Die Striche und Linien sind meist in einem Zug, ohne Absatz, mit dem Bleistift auf das Brief- oder Japanpapier aufgetragen, es gibt keine korrigierenden Schraffuren, höchstens ist eine Drehung des Stiftes zu sehen. Die Verlagerung des Stiftes läßt auch die Drehung der Linien im Ziehen über das Blatt erschließen. Unbewußt, als sei ihm das Sujet erst beim Zeichnen eingefallen, scheint Klee dem Verlauf des Striches gefolgt zu sein, er entwickelt daraus ganze Körpervolumen in einer Linie, die dann mit einer tektonischen Ergänzung zu einer Figur oder einem Gebilde zusammenfinden. Es gibt für den Betrachter keine Gewißheit und kein Wiedererkennen in diesen Zeichnungen, nur die Möglichkeit, sich einzulassen auf ein aktives, vervollständigendes und denkendes Sehen. Dieser produktive Akt beruht auf der Rhythmik und der Planimetrie des auf die Fläche gebrachten Lineaments, welches Klee nur in den sparsamsten Daten aktiviert. Damit werden auch eigentlich unvorstellbare Phänomene gezeigt: Es gibt bei dem Vergeßlichen Engel keine logisch konstruierte Vorder- und Rückseite - der linke Flügel liegt in seiner Spitze vor und an seiner Wurzel hinter seinem Arm. Aber haben denn Engel überhaupt solch greifbare Körper?

So ist auch ein „Angelus militans“ dargestellt, dessen Waffen nicht aus Speer und Schwert bestehen, sondern in dessen im rechten Winkel umfassender Flügelspanne eine zielgerichtete Kraft die Gewalt bezeichnet. Gleichzeitig ist dieser Raum aber auch eine Kiste, aus der eine ratlose Gestalt aussteigen will. Die Mehrdeutigkeit der meisten Bildanalysen wird potenziert durch die meist erst später hinzugefügten definierenden Titel der Blätter; sie weisen ähnlich viele Details auf, die persönliche Situation des Malers - seine Krankheit -, aber auch auf die politischen Umstände, in denen sie gezeichnet worden sind, hin.

Auffällig ist an allen Bildern das Brüchige, Ungewisse und Suchende in der Darstellung. Klee hat in seinem letzten Lebensjahr seine ganze künstlerische Tätigkeit einer erneuten Probe mit den einfachsten Formelementen, die in der Fläche möglich sind, unterzogen. Erst auf den zweiten Blick

-nach einem Sicheinlassen auf den Prozeß, die Entstehungsweise der Zeichnung - wird klar, mit welcher Meisterschaft sich einfache Krümmungen, Parallelen, Winkel und Zipfel in der Hauptlinie eines Blattes ergänzen, auflösen oder durchschneiden, um zu einer fragilen Gestalt zusammenzufinden. Hier tut sich im Vergehen einer künstlerischen Potenz nicht die genialisch-rasche Geste eines Malers wie Picasso auf, sondern das vorsichtige Tasten nach einer Utopie, nach Hoffnung in der Wiederkehr, oder wie Walter Benjamin es im Blick auf sein Klee-Bild, dem Angelus Novus, ausdrückte: „Darum hat er auf keinem Weg Neues zu erhoffen als auf dem der Heimkehr, wenn er einen neuen Menschen mit sich nimmt.“

Johanna Schenkel

Vom 10.9. bis 29.10.1989 im Fokwangmuseum Essen, danach vom 5.11. bis 30.12.1989 in Friedericianum Kassel