40 Jahre komplizierte Brüderlichkeit

■ Gorbatschows Besuch und die Geschichte der Beziehungen Moskau-Ost-Berlin / Von Walter Süß

Die Gefühle, die Gorbatschow entgegenschlagen, wenn er die DDR besucht, sind nicht nur auf seiten der SED-Führung ambivalent, die ihn braucht, aber seine Reformen im eigenen Land nicht will. Für die Bevölkerung der DDR verkörpert er gegenwärtig zwar Hoffnung auf Veränderung, auf ein Mehr an Freiheit und politischer Selbstbestimmung, auf die Möglichkeit, ein erstarrtes System in Bewegung zu bringen. Zugleich aber ist der Vorsitzende des Obersten Sowjet auch Repräsentant jenes Staates, der nach 1945 sein stalinistisches System in die Sowjetische Besatzungszone exportiert hat. Auch läßt Gorbatschow - bisher jedenfalls kaum Zweifel daran aufkommen, daß er vorrangig an der Stabilität des zweiten deutschen Staates interessiert ist. Probleme hat er vorerst genug im eigenen Land. Dennoch gibt es auch bei der DDR-Opposition konkrete Erwartungen an seinen Besuch. Bärbel Bohley, Mitbegründerin des „Neuen Forums“, zur taz: „Ich habe die Erwartung, daß Gorbatschow Honecker daraufhin weist, daß auch die DDR nach Reformen schreit. Vielleicht ist es ja auch mal möglich, daß der Ältere auf den Jüngeren hört.“

Gorbatschow selbst kann sich dieser zwiespältigen Situation nicht entziehen. In der Grußadresse der sowjetischen Partei und Staatsführung zum 40.Jahrestag, die das 'Neue Deutschland‘ gestern veröffentlichte, findet sich nicht der geringste Hinweis auf Differenzen zwischen den beiden Führungen, geschweige denn eine Andeutung irgendwelcher Sympathie für diejenigen, die heute politische Reformen wie in der Sowjetunion auch für die DDR fordern.

Statt dessen heißt es dort: „Ungeachtet des ständigen Drucks der Gegner des deutschen sozialistischen Staates hat dieser eine große schöpferische Entwicklung genommen und sein Recht auf Souveränität und Unabhängigkeit gewahrt.“ Von „brüderlichen Beziehungen zwischen der KPdSU und der SED“ ist dort die Rede, die sich „auch in Zukunft weiter vertiefen“ würden.

Die Ambivalenz in den Beziehungen zwischen beiden Ländern reicht weit zurück, sie ist älter als die DDR. 1945 kam die Rote Armee als Befreier vom Nationalsozialismus. Viele aber betrachteten sie allein als Sieger über das eigene Land und fühlten sich bestätigt, als die Sowjetunion viele Industrieanlagen demontieren und ins eigene Land holen ließ

-was angesichts ihrer ungeheuren Verluste durch den Krieg aber nur allzu verständlich war.

Dennoch taktierte die Sowjetunion in den ersten Jahren mit gewisser Zurückhaltung. Die Sowjetische Militärverwaltung hatte zwar im Hintergrund die Zügel in der Hand und begünstigte beim beginnenden Wiederaufbau von politischen Institutionen ihre Genossen von der KPD, aber selbst die erklärten in einem Aufruf vom 11.Juni 1945, „daß der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland“.

Zwei Gründe hatte diese Vorsicht: Erstens waren die Beziehungen der Sowjetunion zu ihrer deutschen Besatzungszone nicht von ihrem Verhältnis zu den Westalliierten zu trennen, die den größeren Teil Deutschlands in ihrer Gewalt hatten. Die Sowjets hatten Interesse daran, diesen westlichen Teil nicht ganz an die andere Seite fallen zu lassen. Die institutionelle Entwicklung in der „Sowjetischen Besatzungszone“ mußte deshalb so offen gehalten werden, daß nicht alle Möglichkeiten für einen künftigen gemeinsamen deutschen Staat verbaut wurden. Zweitens war sich die sowjetische Führung bewußt, daß die Kommunisten eine allzu schmale Basis in der Bevölkerung hatten. Mit ihnen allein wäre ein erfolgreicher Aufbau nicht möglich gewesen. Von Polen bis Ungarn wurde deshalb in allen Staaten, die unter sowjetische Hegemonie gefallen waren, eine Politik des schrittweisen Machterwerbs eingeschlagen: Die Kommunisten besetzten von Anfang an die Schlüsselpositionen (wie die Polizei), teilten die Regierungsverantwortung aber mit bürgerlichen „Bündnispartnern“.

Nach einer kurzen Zwischenphase, in der die eigenen Reihen neu organisiert wurden, annektierten sie die jeweilige Sozialdemokratische Partei und gingen dann - der Kalte Krieg war mittlerweile offen ausgebrochen - zügig dazu über, politische Konkurrenz mit Repression auszuschalten. Schon die Parallelität in der Entwicklung macht den Schluß unabweisbar, daß diese Politik von Moskau aus gesteuert wurde.

Wer in der späteren DDR die KPD-Erklärung, man wolle nicht „Deutschland das Sowjetsystem aufzwingen“, allzu wörtlich nahm und daraus einen „besonderen deutschen Weg zum Sozialismus“ ableitete, wie Anfang 1946 der damalige „SED -Chefideologe“ Anton Ackermann, mußte wenig später widerrufen. Oder er landete wie Hunderte von Sozialdemokraten im Gefängnis oder im Zwangsarbeitslager. Formal hielt die SED an der KPD-Erklärung fest. das für Ideologie zuständige Politbüromitglied Kurt Hager hat erst kürzlich noch einmal daran erinnert.

In der DDR wurden keine Räte (Sowjets) etabliert, sondern eine Volkskammer und ein sogenanntes „Mehrparteiensystem“ eingerichtet - als Fassade für ein System, das strukturell zum stalinistischen sowjetischen keine Unterschiede aufwies: So wie dort die Macht nicht den Räten gehörte, war sie in der DDR nicht in Händen der Volkskammer, sondern lag in beiden Fällen bei der Kommunistischen Partei.

Garantiert wurde dieses System in der DDR durch die „Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland“. Daß sie nicht nur als vorgeschobene sowjetische Verteidigungsposition diente, sondern auch als letzte Auffangstation bei einer Gefährdung des stalinistischen Systems von innen heraus, wurde am 17.Juni 1953 drastisch dokumentiert.

Als in der Sowjetunion selbst mit dem XX.Parteitag 1956 die Demontage des Stalinismus von der Partei eingeleitet wurde, hielt sich die SED-Führung merklich zurück. Deutsche Opfer des Stalinismus rehabilitierte sie nur unvollständig und weitgehend im geheimen. Wer darüber hinaus aus dem XX.Parteitag den Schluß zog, die DDR brauche eine demokratisch-sozialistische Reform, wer solche Ideen gar (wie Wolfgang Harich) dem sowjetischen Botschafter vortrug, der landete im Zuchthaus. Im glimpflichsten Fall wurde den betreffenden GenossInnen „opportunistische Auslegung der Ergebnisse des XX.Parteitages der KPdSU“ vorgeworfen.

Die Sowjetunion hat diese „schöpferisch“ genannte Auslegung ihrer Beschlüsse durch die DDR-Führung damals hingenommen. Sie gab auch Rückendeckung als diese sich 1961 keinen anderen Rat gegen das Ausbluten ihres Landes wußte zweieinhalb Millionen waren bis dahin geflohen -, als es einzumauern. Die Atempause, die ihr diese Abgrenzung verschaffte, nutzte die SED zwar für eine Wirtschaftsreform, nicht aber für grundlegende politische Veränderungen. An der Verhinderung solcher Prozesse beteiligte sie sich vielmehr an der Seite der Sowjetarmee 1968 in der Tschechoslowakei.

Trotz weitgehenden innenpolitischen Gleichklangs der sowjetischen Führung unter Breschnew und der DDR-Führung kam es Ende der 60er Jahre zum Konflikt. Walter Ulbricht wehrte sich gegen die Öffnungspolitik der Sowjetunion in Richtung Westen, die auf Kosten der Souveränitätsansprüche der DDR zu gehen drohte. Diesen Konflikt hat er nicht überstanden. Er mußte 1971 gehen. Die neue Führung unter Erich Honecker schloß sich der sowjetischen Westpolitik an. Die DDR hat davon in den folgenden Jahren profitiert. Das gilt auch für ihr Verhältnis zur Sowjetunion, denn auf deren Vertretung in internationalen Gremien und gegenüber Drittstaaten war sie bis dahin angewiesen gewesen. Nun rollte eine Anerkennungswelle, die die DDR erstmals zum Akteur auf der Bühne internationaler Politik machte. Ihre größere Eigenständigkeit spielt die Staats- und Parteiführung jetzt auch gegen die Sowjetunion aus.

Den Übergang zur Reformpolitik in der Sowjetunion hat die SED mit größter Zurückhaltung verfolgt. Ihre Abwehrhaltung rationalisierte sie anfangs mit dem Argument, es handle sich um eine rein innere Angelegenheit der UdSSR, deren Führung sich endlich daran mache, die marode Wirtschaft zu sanieren

-ein Problem, das die DDR angeblich nicht hat. Später, als die Reformbewegung sich verbreiterte und radikalisierte, trat die These in den Vordergrund, an der „sensibelsten Grenze der Welt“, so der führende SED-Ideologe Otto Reinhold, könne man sich eine so riskante Politik nicht leisten.

Es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, daß die sowjetischen Reformer das lange Zeit genauso sahen. Sie haben an Stabilität in ihrem Vorfeld und auch an kontinuierlichen Importen aus der DDR ein vitales Interesse. Daß dies vor eventuellen Sympathien mit reformerischen Kräften Vorrang hat, zeigte die sowjetische Führung etwa nach den Demonstrationen im Januar 1988. Eineinhalb Wochen lang hüllte sie sich in Schweigen, dann stellte sie sich in Kommentaren von 'Tass‘ und führenden sowjetischen Zeitungen auf die Seite der Repression.

Inzwischen allerdings hat sich sowohl in der Sowjetunion wie auch in der DDR einiges geändert. In der Sowjetunion ist eine Opposition herangewachsen, die sich auch im Obersten Sowjet lautstark zu Wort meldet. Diese Opposition hat derzeit wichtigere Probleme als die Lage in der DDR, doch wenn es dort zum Eklat kommen sollte, würde sie sich wohl auf die Seite der Gleichgesinnten in der DDR stellen. Gorbatschow muß um seiner Glaubwürdigkeit willen auf solche Kritik Rücksicht nehmen.

Noch entscheidender aber ist die Frage, ob die Regierenden in der Sowjetunion die starre Politik der SED heute noch für eine wirksame Stabilitätsgarantie halten. Gorbatschows Deutschlandexperte Valentin Falin hat am letzten Wochenende einen deutlichen Hinweis gegeben, wo die Besorgnis liegt, indem er von Differenzen zwischen dem Tempo von „Reformpolitik“ in der DDR und der „Dynamik der Entwicklung“ sprach. So könnte sich auch in der sowjetischen Analyse der DDR-Probleme die Einsicht durchgesetzt haben, daß die gefährlichste Utopie in der Politik manchmal die ist, der Status quo lasse sich einfach fortschreiben.

Die Alternative wäre eine stärker repressive Politik in der DDR. Sie jedoch käme der sowjetischen Westpolitik in die Quere - insbesondere gegenüber der Bundesrepublik. Ganz kann sich die UdSSR aus der Verantwortung für die inneren Verhältnisse in dem „Bruderland“ mit der eingeschränkten Souveränität nicht stehlen. Honeckers Vorgänger mußte gehen, weil er die sowjetische Außenpolitik behinderte. Er selbst müßte sich dessen wohl bewußt sei.