Freier Blick und knapper Stil

■ „Ein Fall von Liebe“ - Erzählungen von Ivy Litwinow

Aufmerksam zu machen ist auf ein Taschenbuch. Es handelt sich um „Ein Fall von Liebe“, Geschichten der Engländerin Ivy Low, die 1916 in London den künftigen sowjetischen Außenminister Maxim Litwinow, damals noch Revolutionär im Exil, heiratete. Nach der Revolution folgte sie ihm nach Moskau. Dort zog sie ihre beiden Kinder groß, hatte etliche Liebschaften, organisierte den Unterricht von Basic English, schrieb kleine Texte für die Frauenseite des „Manchester Guardian“ und - nach zwei frühen Romanen - einen Kriminalroman mit dem Titel „His Master's Voice“. Am politischen Leben, schreibt ihr Biograph John Carswell im Nachwort, habe Ivy „nie wirklich teilgenommen; sie war Lenin nie begegnet, nie der Kommunistischen Partei beigetreten und hatte Stalin nur einmal auf einem Empfang gesehen, wo er sie mit einer anderen verwechselte“. Nun, Genaueres wird man erfahren, wenn einmal ihre Fragment gebliebene „Sorterbiography“ erscheint. Denn Abneigung gegenüber der Politik schließt deren genaue Wahrnehmung nicht aus. Maxim Litwinow, 1930-39 Volkskommissar für Äußeres, blieb während der Jahre von Stalins Terror mit knapper Not am Leben. 1942 wurde er für zwei Jahre (Ivy's glücklichste Zeit) als Botschafter nach Amerika geschickt, danach jedoch aller politischen Ämter enthoben. Er starb 1952. Nach Stalins Tod begann Ivy Litwinow mit der Niederschrift jener Erzählungen, die der vorliegende Band versammelt. Sie erschienen ab 1966 im „New Yorker“ und bald darauf als Buch in London. Der oppositionellen Bewegung, die 1966 unter der sowjetischen Intelligenz entstanden war, brachte Ivy Litwinow große Sympathie entgegen. 1968 verhaftete man eines der führenden Mitglieder, ihren Enkel Pawel Litwinow. Von einer Englandreise 1971 kehrte Ivy Litwinow dann nicht mehr nach Moskau zurück. Sie starb 1977 im Alter von 88 Jahren.

Die Anordnung der Geschichten zeichnet ihren Lebensweg nach. „Vielleicht schon morgen“ erzählt von drei ganz frühen Erinnerungen an den Vater und dessen plötzlichem Tod. Walter Low, engagierter Pädagoge und Sozialist jüdisch-ungarischer Herkunft, starb, als Ivy fünf Jahre alt war. Keinen Augenblick lang verläßt die Erzählerin die Sicht des Kindes, das Ursache und Wirkung seiner Erlebnisse noch nicht verketten kann und sich mit eigenen Erklärungen behelfen muß: „Tote konnten nämlich nicht an zwei Orten zugleich sein, so war das mit dem Totsein“. Um dann ebenso unvermittelt, wie die Mutter es tat, doch mit einem ganz anderen Blick zur neuen Realität überzugehen: „Jetzt hab es Sandy“. Das ist der schon abgerückte, distanzierte Blick einer Tochter, der alles einst selbstverständlich Vertraute fremd und fragwürdig wurde. Die Erzählung „Sie konnte nicht irren“ betreibt dann schonungslos die Demontage des treusorgenden Mutterherzens. Dabei ist Ivy Litwinow eine Meisterin des beiläufig Lakonischen: „Als die dreißigjährige Wyn wenige Monate nach dem Tod ihres ersten Mannes wieder nach einem Ehemann Ausschau hielt, konnte ihr das niemand verdenken.“ Denn Mann heißt Geld. Wyn's Wahl fällt auf den soliden Sandy, einen Beamten der Abteilung „mittelalterliche Handschriften“ des Britischen Museums; womit im übrigen für eine unglückliche einsame Kindheit der Tochter gesorgt ist. Nun wird das aber keineswegs schmerzensreich anklagend, sondern bestrickend komisch erzählt. Der Egoismus der Mutter ist so selbstgewiß und forsch, die Brautwerbung so plump, daß all das einfach zur Beute des Humoristen werden muß, Ivy Litwinow erweist sich hier als würdige Nachfolgerin von George Meredith, der England 1877 seinen „Egoisten“ schenkte. In „Tippse bei der Pru“ wird das Thema fortgesetzt. Die Mutter macht da mit der 19jährigen Tochter Urlaub an der See und verkleidet ihren Egoismus nur mehr notdürftig. Während sie einer Affäre nachgeht („Freundschaft ist immer etwas Erhabenes“), sucht sie ihre Tochter zur Heiratskandidatin abzurichten. Wyn plädiert entschieden und ganz uneigennützig für den „standesgemäßen Mann mit ein bißchen Geld“. Eileen aber macht sich nichts aus „besseren Kreisen“ oder „vorzeigbaren“ Begleitern. Sie vergräbt sich in Bücher (russische!), unternimmt weite einsame Streifzüge und lebt im übrigen in Erwartung der Zukunft. Die begegnet ihr in der „kräftigen“ Gestalt von Mister Litwinow, jenem „Fall von Liebe“ eben, der hier mit keinem Wort verraten werden soll. Erleichtert atmet der Leser auf: Die Egoisten sind vorläufig aus dem Feld geschlagen, die Revolte glückte.

Die folgenden Geschichten aus der Chruschtchow-Zeit berichten von dem, was nirgendwo sonst als in der Literatur zu finden ist: vom Alltag in der Sowjetunion. Da ist etwa die sowjetische Variante der Apartheid: Die Funktionärsklasse und jene, deren Angehörige im Lager sind, trennt eine Mauer, die nicht einmal Kinder im Spiel einreißen können. In „Der Junge, der lachte“ folgt Ivy Litwinow dem Schicksal eines behinderten Kindes. „Im Ferienheim“ schildert, wie Erholung daran scheitert, daß man ein Zimmer zusammen mit Fremden teilen muß; es sei denn, man bildet einen kleine Solidaritätsgemeinschaft. Ein andermal werden Revolution, Zwangskollektivierung und Lagerleben aus der Sicht des gebildeten, weltläufigen Katers Waska erzählt. Glanzstücke aber sind „Heitere Gestade“ und ihre Spiegelerzählung „Flucht von Heiteren Gestaden“. Da möchte eine Frau einmal das, was ihr seit der Revolution in ihrer Wohnung verwehrt ist: allein sein. Sie reist auf die Krim und begegnet dort einem Engländer. Ihr Rendezvous verhindert eine aus dem Lager zurückgekehrte Freundin. Der schmerzende Knoten des unerfüllten Augenblicks muß sich gleich in zwei Erzählungen lösen. Leicht, fast heiter wird all das erzählt. Beiläufig tun sich die Abgründe der Lebensgeschichten auf, verwoben mit all dem absurden Widersinn des sowjetischen Alltags. Aus dem Zusammentreffen von englischem Witz und sowjetischer Realität, entsteht eine Mischung von ganz eigenem Charme, vermutlich die einzige Form, diesen Alltag zu ertragen.

Die späten Erzählungen aus England beginnen mit einer Satire auf den von Schreibhemmung geplagten Erfolgsliteraten und wenden sich dann noch einmal Meredith und den Egoisten zu. „Asphodelos säen“ verschränkt nach Art eines Kreuzworträtsels Selbstgespräch, visuelles Gedächtnis, Lektüre und Traum einer alten Dame: Eine frühere Taktlosigkeit gegenüber der Mutter, die „friedlich“ und damals kaum betrauert starb, kehrt als Schuldgefühl zurück, das gelöst werden will.

In „Ein Fall von Liebe“ ist eine Persönlichkeit, ein Reichtum des Herzens zu spüren, der von Geschichte zu Geschichte weiterlockt. Frei ist der Blick, knapp der Stil, wenig genannt, alles präsent. Was man in der Gegenwartsliteratur, die so vieles benennt und so wenig erzeugt, oft vergeblich sucht, das haben Ivy Litwinows Erzählungen: Aura.

Marie-Luise Bott

Ivy Litwinow, Ein Fall von Liebe. Aus dem Englischen von Peter Bartelheimer. Suhrkamp, 271 Seiten, 14 DM