Koedukation: Lernziel verfehlt

■ Vor 20 Jahren erhoffte man sich von ihr gleiche Bildungschancen / Doch der gemischte Unterricht wird heute vornehmlich von männlichen Interessen bestimmt / Alte Geschlechterrollen leben fort / Nicht nur Mädchen, auch Jungen werden benachteiligt

Man stelle sich das vor: eine Bildungsreform, die innerhalb von nur zwanzig Jahren zügig, beharrlich und mit fast hundertprozentigem Erfolg realisiert wird. Da stimmt doch etwas nicht! Das Mißtrauen gilt der Koedukation, der gemeinsamen Erziehung von Mädchen und Jungen in der Schule. In den Jahren 1968/69 begonnen, konnte sie sich ohne nennenswerte bürokratische und praktische Verzögerungen und Störungen durchsetzen. Wag mag den Schulmännern, den Schulräten und Schulaufsichtsbeamten daran so gefallen haben?

Angeblich waren es die gleichen Bildungschancen für Mädchen und Jungen. Zudem erhoffte man sich ein besseres Verständnis der beiden Geschlechter füreinander, hieß es. Das pädagogische Fernziel hätte demnach all die Jahre hindurch gelautet: gleiche Berufschancen für die Frauen, gleiche Verantwortung der Männer für die Familien, eine gerechte Verteilung von Rechten und Pflichten also - im öffentlichen wie im privaten Leben. Geradezu ein revolutionärer Gedanke für eine Institution, die sich sonst eher durch Stagnation auszeichnet. Der Lehrer - als Spiritus rector treibender Geist einer demokratischen Reformbewegung?

Ach nein, es wäre auch zu schön gewesen. Zu einem veränderten Fühlen, Denken, gar Handeln hat die Koedukation nicht geführt. Ihr eigentliches Ziel, nämlich die Gleichberechtigung der Geschlechter, hat sie verfehlt. Sie blieb - wie so viele andere wertvolle pädagogische Grundsätze in der Schule - ein rein formales Prinzip. „Weil man weder die Unterrichtsinhalte, die Schulbücher noch die Verkehrsformen noch irgend etwas anderes sorgfältiger bedacht oder gar korrigiert hätte“, begründet Sigrid Metz -Göckel, Professorin und Leiterin des Hochschuldidaktischen Zentrums der Universität Dortmund. „Eher ist es so gewesen, daß man versucht hat, den Jungen mehr gerecht zu werden.“

Den Nachteil haben also zunächst einmal die Mädchen: Die Auswahl des Stoffes wird vornehmlich von männlichen Interessen bestimmt. Jungen können ohne Mühe Vorbilder finden: in Dichtern, Philosophen, Künstlern, Politikern. Selten aber haben die Mädchen die Möglichkeit zur Identifikation - so als hätte es große Frauen nie gegeben, als wären Frauen immer nur die Zuträgerinnen, die Gefolgsleute von Männern gewesen, das Fußvolk gewissermaßen. Wenn überhaupt, dann werden weibliche Gestalten meist vorgestellt als Gefährtin von..., Frau von..., Mitarbeiterin von... - Wohlgemerkt, es geht nicht um einen weiblich -männlichen Schlagabtausch. Die Rede ist vielmehr von positiven weiblichen Lebensentwürfen, die in den Lehrplänen nicht fehlen dürften. „Das ist doch ein ungeheurer Ansporn, öffentlich zu wissen, Frauen können das. Das erweitert die Perspektive, die Potentiale, die Optionen der Frauen ungeheuer“, betont Metz-Göckel.

Eine aufschlußreiche Studie von 1987 zeigt, daß viele weibliche Studierende der Informatik und Chemie in Nordrhein -Westfalen ausgerechnet von Mädchenschulen kommen. Die Studentinnen haben offenbar ein stärkeres Zutrauen in ihre naturwissenschaftliche Begabung als Mädchen von koedukativen Schulen. Das erscheint plausibel: „Wenn die Mädchen unter sich sind, zum Beispiel im Physik-Leistungskurs, ist auf jeden Fall die Beste immer ein Mädchen. Mindestens eine hat von sich das Gefühl: 'Also, ich schaff's doch, ich kann's mir zutrauen!'“ So die Erklärung von Sigrid Metz-Göckel.

Wie in der Tanzstunde

Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen machte Sigrid Metz-Göckel auch die umgekehrte Probe aufs Exempel: Innerhalb eines Forschungsprojektes wurden achtjährige Mädchen einmal alleine im Computerkurs unterrichtet und einmal mit Jungen zusammen. „Es zeichnet sich schon in diesem Alter ab, daß in dem koedukativen Kurs die Mädchen immer zu Assistentinnen wurden. (...) Oder als es darum ging, daß die Paare sich selber zusammensetzen sollen, das war wie in der Tanzstunde. Da haben die Jungen sich die Mädchen genommen“, beobachtet die Erziehungswissenschaftlerin. Wie die Sekretärinnen seien die Mädchen an der Tastatur gesessen oder hätten die Befehle entgegengenommen, während die Jungen sich mehr oder weniger als große Bosse aufgespielt hätten.

Bestimmte Geschlechterrollen erscheinen als so selbstverständlich, daß sie kaum auffallen - weder den Lehrern noch den Eltern und den Kindern schon gar nicht. Hinzu kommt, daß die Jungen ihr dominierendes Verhalten und die Mädchen ihre dienende Funktion gegenüber dem anderen Geschlecht so früh lernen, daß ein gleichberechtigtes Miteinander nicht frühzeitig erfahren werden kann.

Das ist auch der Ursprung für die ungeheuren Probleme der Jungen. Auch für sie ist die einseitige Erziehung belastend, die festgelegte Rollenzuteilung ein ständiger Streß. Sigrid Metz-Göckel: „Wir haben verschiedene Strategien entdeckt, mit denen die Jungen so den Status ihrer Überlegenheit aufbauen, ihn durchhalten und sogar vortäuschen! Quasiexperten oder Experten, die längst überrundet waren, aber immer noch an ihrer Überlegenheit festhielten.“

Deutlich wird: Das Sozialverhalten bestimmt das Lernverhalten. Das heißt: „Die Schülerinnen lernen innerhalb einer ganz bestimmten Struktur, die für die Mädchen die Wertigkeit hat 'Sei sozial!‘ und für die Jungen 'Sei überlegen!‘. Und weil die Jungen das nicht immer schaffen, deshalb gibt es auch die vielen Störungen. Denn es ist ganz schwierig für die Jungen mit dem Imperativ, immer überlegen sein zu müssen, zu leben. Deshalb hab‘ ich durchaus sehr viel Empathie für die Verpanzerungen und für die Leiden der Jungen.“

Empathie, ein gewisses Einfühlungsvermögen also, ist tatsächlich nötig, wenn man nicht nur die Defizite der Mädchen, sondern auch die desolate Situation der Jungen erkennen will. In einer Zeit, in der zunehmend soziales und kooperatives Denken und Handeln gefordert wird, sind die Jungen im Lernrückstand. Barbara Koch-Priewe, Unterrichtsforscherin am Oberstufenkolleg der Universität Bielefeld, berichtet von ihren Erfahrungen mit Sechzehn- bis Achtzehnjährigen: Männliche Studierende arbeiten im Unterschied zu den weiblichen ungern in Gruppen. Gruppenarbeit gehört aber gewissermaßen zum „Pflichtpensum“ des Kollegs. „Und da haben die Frauen bessere Chancen“, so Koch-Priewe.

Für die Gruppenarbeit, den kooperativen Arbeitsstil, sind soziale Fähigkeiten notwendig. Die bleiben aber dort schwach entwickelt, wo Machtansprüche das Selbstbild prägen. Der innere Druck, stets den Überlegenen spielen zu müssen, verbaut den männlichen Blick auf eigene Fehlleistungen und läßt so manche Studienkarriere frühzeitig scheitern: „Unsere neuesten Ergebnisse belegen, daß die weiblichen Studierenden seltener die Ausbildung vorzeitig abbrechen, das heißt sie halten durch und schließen erfolgreich ab.“

Jungen haben an sozialen Problemen kein Interesse

Astrid Kaiser, Erziehungswissenschaftlerin und Grundschullehrerin in Bielefeld, sieht die Gründe für dieses Rollenverhalten von Mädchen und Jungen in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Das Mädchen wird bestärkt in seinem sozialen Verhalten, der Junge in seinem Sachinteresse und Selbstbehauptungswillen. Bereits im Grundschulalter vertreten Mädchen und Jungen daher völlig andere Positionen zu gewöhnlichen Sachunterrichtsfragen.

Astrid Kaiser berichtet von einem Forschungsprojekt, in dem die Kinder eine Fabrik malen sollten: „Ziel war herauszufinden: 'Was wissen Kinder über Fabrikarbeit?‘ Die Mädchen malten die Personen groß, setzten ihnen Staubschutzkopftücher auf den Kopf und dachten auch an das Licht, weil in der Fabrik eben so lange gearbeitet wird. Während die Jungen die Personen fast gar nicht zeichneten, dafür aber mit größter Freude und Genauigkeit die Rohrsysteme und die Haken und die Transportelemente und den Gabelstapler. Astrid Kaiser sieht hierin auch einen Beweis für das politische Interesse der Mädchen: „Die hatten für soziale Bedingungen der Arbeitswelt ein enormes Verständnis, während die Jungen die sozialen Probleme der Arbeitskräfte außer acht ließen.“

Die Koedukation, die gleichberechtigte Erziehung beider Geschlechter, verfolgt im Grundsatz ein wesentliches gesellschaftliches Ziel: Mädchen und Jungen sollen nicht nur ihre unterschiedlichen und ungerecht verteilten Defizite ab und ihre Stärken aufbauen können. Sie sollen auch fähig werden, als Erwachsene an der Entwicklung einer demokratischen und sozialen Gesellschaft mitzuwirken. Wissenschaft, Wirtschaft, Politik haben es bitter nötig, humanen Gesichtspunkten untergeordnet zu werden. Hier wird der weibliche Anteil dringend benötigt. Andererseits müssen Frauen lernen, aus ihren Status als Opfer herauszufinden. Sie müssen lernen, sich durchzusetzen und ihren Part an Verantwortung auch in der Technik, der Naturwissenschaft, der Information zu tragen. Es kann also nicht um eine einseitig verstandene Gleichberechtigung gehen, in der man den angeblich so zurückgebliebenen Mädchen gönnerhaft die Hand herabreicht, damit sie an männlichen Höhenflügen teilnehmen können.

Geschlechtskompensatorische Erziehung

Astrid Kaiser hält zwar an der Koedukation fest, fordert aber spätestens von der Grundschule an eine geschlechtskompensatorische Erziehung. Je nach Lernsituation getrennte Gruppen, in denen Mädchen und Jungen ihre Defizite ausgleichen können. „Daß Mädchen zum Beispiel lernen, sich durchzusetzen auf dem Schulhof, daß Jungen wiederum lernen, sich einzufühlen in andere Menschen.“

Dazulernen müssen allerdings auch die LehrerInnen, damit sie die Mädchen auch wirklich fördern und nicht ihr eigenes Unterbewußtes von Erwartungen, wie ein Mädchen zu sein hat, weitertransportieren. Astrid Kaiser erlebte nämlich bei Nachbesprechungen in ihrem Projekt immer wieder, daß LehrerInnen kaum glauben wollten, wie unterschiedlich ihre Mädchen und Jungen tatsächlich sind. „Das ist einfach eine Frage der Wahrnehmung. Und Wahrnehmung kann man lernen. Erst wenn man das wirklich akzeptiert hat - so sind die Mädchen, so sind die Jungen -, kann man ihnen gerecht werden und auf sie wirklich eingehen.“

Hannegret Biesenbaum