Genosse Gratulant Gautier

■ Bremer DKP-Vorsitzender feierte 40. DDR-Geburtstag in Schwerin mit einer „unerhörten“ Rede

„Ich glaube, daß es unabdingbar ist, daß ein humanistisches Gebot wie Freizügigkeit in der sozialistischen DDR verwirklicht wird, und ich denke auch, daß es nicht mehr zeitgemäß ist, der sich formierenden Opposition wie etwa dem Neuen Forum mit administrativen Mitteln zu begegnen.“ Was für ein langweiliger Satz! Einer von denen, wie man sie seit ein paar Wochen hört - in Fernsehkommentaren, in bedenklich abgezirkelten Interviews mit ehemaligen DDR-Schriftstellern. Falsch! Nochmal lesen und zumindest über ein Wort stolpern! Immerhin ist die Rede von der sozialistischen DDR.

Das Aufregende an diesem Satz ist nicht sein Inhalt, sondern sein Autor und der Ort, an dem er gesagt wurde. Er stammt aus keiner ARD-Talkshow, sondern aus einer offiziellen Feiertagsrede zum 40. Geburtstag der DDR, gehalten vom Bremer DKP-Vorsitzenden Dieter Gautier in der in der festlich herausgeputzten Kantine einer Schweriner Maschinenfabrik. Zuhörer: Die rund 500-köpfige köpfigen Belegschaft, die örtliche SED-Führung und die SED -Betriebsleitung. Vor Gautier hatten offizielle SED -Funktionäre gesprochen - ohne auch nur ein Wort über Massenflucht, Opposition und nötige Reformen in der DDR zu verlieren. Nach Gautiers Rede wurden Dutzend von MitarbeiterInnen offiziell als „Aktivisten“ und „Helden der Arbeit geehrt“.

Gautier war als Vorsitzender der Bremer DKP offiziell von der SED-Führung eingeladen worden. Schwerin ist die „Patenstadt“ in der DDR für die Bremer DKP. Bis dahin ein an sich üblicher Vorgang im traditionellen Verhältnis SED-DKP. Heikel in diesem besonderen Fall für die

Schweriner SED-Führung: Ihr mußte durchaus klar sein, daß sie mit dem Bremer DKP-Vorsitzenden inzwischen einen Querdenker eingeladen hatten, der auch in der DKP zum ungeliebten Flügel der Erneurer gehört und von der DKP -Führung mißtrauisch beäugt wird. Bei allem rhetorischen Respekt vor den „eindrucksvollen Erfolgen der SED“ und bei aller Distanz gegenüber den neuen Wiedervereinigunstönen in der Bundesrepublik: Rund die Hälfte von Gautiers siebenseitigem Redemansukript beschäftigt sich mit

den Fernsehbildern „über die vielen tausend Menschen, die die DDR verlassen“, mit der Notwendigkeit eines „produktiven Meinungsstreits in der DDR“ zwischen SED und „den Menschen“. Daß der Bremer DKP-Vorsitzende sich dabei über weite Strecken taktvoll hinter Zitaten, z.B. der DDR-Autorin und Mitinitiatorin des Neuen Forums, Christa Wolf, versteckte, dürfte der Provokation seiner Rede dabei nur geringen Abbruch getan haben. (siehe unsere Dokumentation der Rede in Auszügen)

Als „geduldiges Zuhören“ während und „freundlichen Beifall“ nach seiner Rede, beschrieb Gautier gestern nach seiner Rückkehr die Reaktionen im Publikum. In inoffiziellen Gesprächen am Rande habe er allerdings auch ausdrückliche Zustimmung, ernsthafte Nachdenklichkeit, aber auch handfestes Mauern erlebt. Aber: „Eine andere Rede hätte ich sowieso nicht halten können. Wenn der SED die nicht ins Feiertagsprogramm gepaßt hätte, hätte ich höchstens ganz verzichtet.“

K.S.