„Das war lange Zeit getrenntes Leben“

■ 62 goldene, diamantene, eiserne und Gnadenpaare an der Jubiläums-Kaffeetafel in Spandau / Weltwirtschaftskrise und Wirtschaftswunder: Lange Ehen aus krisenhafter Zeit / Kaiser's Schloß, „Heimatschuß“, Konsumgesellschaft / Hoffnung auf Abbau von Feindbildern bei Schunkelmusik

Die gute Luft von Spandau, die Sozialstadträtin und der Bürgermeister sind zusammen mindestens so gut wie Thommy Gottschalk: 2.755 Jahre Ehe in einem Rathaussaal. Niemand weiß, was damit zu beweisen war. Nicht mal Bezirksbürgermeister Salomon (SPD), Schirmherr über 62 Jubelpaare: Gold, Diamant, Eisen, Gnaden. „Sie sehen, was für Sie selbst individuell etwas Besonderes ist, ist gar nichts so Außergewöhnliches.“ Die Menschheit existiert nur als Paar. Norm bleibt Norm. Und wer am längsten normt erhält Kaffee, Kuchen und festliche Darbietungen. Kein Grund zum Jubeln - kollektiv schon gar nicht. Du sollst die Feste feiern, wie sie fallen: elftes Gebot.

Als der Bürgermeister die Absage des diamantenen Paares verkündet, geht ein Raunen durch die Menge: „Er ist 107 und fühlte sich nicht so recht. Sie wollte allein nicht kommen.“ Der Rekord begeistert noch, doch leider mußte auch das eiserne Paar absagen. Nun beschwört der Bürgermeister die Zeiten des Honeymoons herauf: wer vor 70 Jahren den Bund schloß, hatte das Koppelschloß gerade in die Ecke geworfen. 1919: Krieg zu Ende, Revolutionsbeginn, Versailler Vertrag. Schande fürs Elefantengedächtnis. Vor 65 Jahren, 1924: Währungsreform, goldene, nicht-goldene Zwanziger. 60 Jahre zurück: Schwarzer Freitag '29, Weltwirtschaftskrise. Und vor 50 Jahren, O-Ton Salomon: „Hier brauche ich kaum etwas zu sagen, es folgten Jahre der Entbehrung.“ Das „1. Spandauer Seniorenorchester“ legt wie eine bleierne Schleppe den Hochzeitsmarsch von Mendelssohn darüber.

Zwei Paare: Lina und Otto Krech (Diamant) und Hildegard und Ewald Brabanski (Gold). Als sie heirateten, gab's keine wilde Ehe, keine Krise der Geschlechterrollen. Ein uneheliches Kind war schändlich, eine Scheidung skandalös von Emanzipation gar nicht zu reden. Otto (84) und Lina (85) stammen hörbar aus Ostpreußen. Sie lernten sich 1929 im Haus von Ottos Schwager kennen, „durch einen Kuß“ (Lina), „war sehr schön“ (Otto). Er war Schuhmacher und ging später zur BVG, sie arbeitete in einer Wäscherei, „ich hab jeplättet damals“. Otto über die Romanze: „Herrlich im Sommer, die Nachtijallen haben jesungen, wunderbar, schöne Jejend mit Wald, da is der Kaiser mit seinem Jefolge hingekommen auf sein Schloß.“ Sie sind kinderlos (Lina: „Kann passieren! Wollten welche, kamen keine.“), trotzdem ist die Rollenverteilung streng traditionell. Otto redet, Lina stimmt zu und fällt ihm kaum einmal ins Wort. Erinnerung an Börsenkrach und Weltwirtschaftskrise? „Ham wir nichts jemerkt, im alljemeinen, wir mußten aus eijener Kraft zurechtkommen, Wirtschaftskrise, oder Wirtschaftswunder, so wat ham wir jar nicht jekannt.“ Krieg, Gefangenschaft, Heimkehr 1947. „Auch von den Rosinenbomber ham wir nischt abjekricht.“ Sie hat auch während des Krieges gebügelt, eigentlich „sollte“ sie auch zur BVG. „Hat mein Mann aber jesacht, is zu jefährlich wegen der Bomben, deshalb hab ich weiter jeplättet.“

Hildegard (73) und Ewald (76), zwei Kinder, heirateten 1939. Hier scheint das Rollengefälle nicht so stark zu sein. Hildegard führt das politische Wort, auch wenn sie selbst als „Gitarrenspielerin für den Hausgebrauch“ den Kammermusik -spielenden Gatten bewundert. Das Kennenlernen: „Wir sind zusammen in die Oper gegangen und da hat man die ersten gemeinsamen musikalischen Erlebnisse gehabt“ (Hildegard). Nach der Heirat im Mai brach bald der Krieg aus. Er war zunächst wegen Anstellungen bei Siemens und Volkswagen „unabkömmlich“, wurde aber 1941 trotzdem eingezogen. Doch er hatte Glück: '42 wurde er an der Ostfront verwundet. „Heimatschuß“: zurück durch die Lazarette bis Berlin, Entlassung vier Wochen vor der Kapitulation.

„Das war lange Zeit getrenntes Leben“, sagt Hildegard, „eigentlich begann unserer Ehe erst im Lazarett.“ Dort besuchte sie ihn, sogar als er noch in Warschau lag. Nach Kriegsende blieb sie „in Anstellung bei der AEG“, wo sie auch während des Krieges gearbeitet hatte. Dann kümmerte sie sich um die Kinder. Wirtschaftswunder? Für beide eine Erinnerung, bei der sie euphorisch werden. „Wir hatten doch nichts zu tauschen.“ Und wann haben beide gemerkt, in welche Richtung der Zug der Nazis ging? „Ich bin in der Sozialistischen Arbeiterjugend groß geworden, das war mein zweites Zuhause“, sagt Hildegard. „Wir waren nie für Hitler und haben uns gedrückt, wo wir konnten.“ Mit ihrem Baby hatte Hildegard immer eine Ausrede, nicht zu Aufmärschen zu gehen. Haben sie von den Verbrechen an den Juden gewußt? Ein ziemlich schnelles Nein von Hildegard: „Nein, nicht so in dem Sinne. Ich habe wohl gewußt, daß sie abgeholt wurden. Aber von der Endlösung wußte ich nichts.“

Und die heutige Politik, das Wiedererstarken der Rechtsextremen? Ewald: „Wahrscheinlich fühlen sich Leute da und dort angesprochen. Die 'Republikaner‘ predigen: Wir Deutsche für uns, und nicht soviel den Ausländern geben.“ Doch es sei ein Irrtum so zu denken. Hildegard: „Es kommt noch etwas hinzu. In den großen Parteien sind Skandale passiert, die ich für unmöglich hielt, aber ich würde natürlich nie die 'Republikaner‘ wählen.“ Hauptsache sei heute der Konsum. Dafür fehlt den beiden das Verständnis. Doch sei auch heute „eine bewegte Zeit“. Das Paar hofft, „daß noch mehr Feindbilder abgebaut werden“. Hildegard: „'Nie wieder Krieg!‘ - das Wort hat uns ja schon in der Jugend beseelt.“ Das Seniorenorchester intoniert irgend etwas mit Rhein-Wein-glücklich-sein.

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