: Neues aus der Friedrichstrasse
■ "Herzlich Willkommen" - eine gesamdeutsche Familientragödie in 476 Folgen. 1. Folge
Was bisher geschah? - Eigentlich nichts, und so hätte es auch vierzig Jahre weiter gehen können, wenn nicht dieser verfluchte Sommer dazwischen gekommen wäre. Zugegegen: der Kaffee war im Laufe der Jahre etwas teurer geworden, dafür gab's drüben die eine oder andere Banane mehr. Kurz und gut: man hatte sich eingerichtet wie Familie Schultze aus der Friedrichstraße. Der Blick aus dem Wohnzimmer auf den Belle Allianzplatz ist zwar ganz schön, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß im sozialen Wohnungsbau der 60er Jahre keine Paläste entstanden sind, wie es auch Uschi Schultze weiß.
„Wir waren ja damals froh, daß wir sie überhaupt gekriegt haben. Endlich Schluß mit der ewigen Kohlenschlepperei, wenn sie wissen, was ich meine. Unser Ingo hat sein eigenes Zimmer, und für Oma hat sich dann auch noch ein Plätzchen gefunden, als sie auf Rente ging und zu uns kam. Natürlich, es war nicht immer einfach, aber wir haben ja noch die Laube in der Kolonie Neuland - draußen in Rudow.“
Da verlebten die Schultzes ihre Sommer, und im Winter war immer wieder Weihnachten, und da schickten sie das obligatorische Pfund Kaffee in der Geschenkdose - hübsch und praktisch - an die Schultzes-Ost in Prenzlauer Berg. Aber seitdem Schultzes-Ost die neue West-Antenne haben, stiegen auch die Ansprüche: ob Wannenwichtel oder Tannenspray, den Otto-Katalog kannten sie besser als Schultzes-West.
Als dann in diesem Frühjahr das Kärtchen vom Osterausflug nach Neu-Ruppin kam, haben sich Schultzes-West noch nichts dabei gedacht. Etwas stutzig wurden sie nur über Onkel Heriberts Frage, ob es denn hier noch Straßenbahnen gäbe er ist nämlich Schaffner bei der Ost-BVG und die Schultzes überhaupt eine alte Eisenbahnerfamilie.
Als dann vor ein paar Wochen die ersten mit den Zügen aus Ungarn rüberkamen, war bei Schultzes im Wohnzimmer noch das große Hallo, auch bei Ingo (17): „Also, ich kann die ja voll verstehen. Immer nur Puhdys hören und alle Jubeljahre mal an die Ostsee fahren, das hält doch kein Schwein aus, oder was?“ Was Ingo allerdings dachte, als dann dieser folgenschwere Anruf kam, ist nicht überliefert.
„Hallo, hier ist Onkel Herbert - Uschi? Bist du das? Mensch, stell dir vor, wir sind jetzt hier im Lager in Passau. Wir können's noch gar nicht fassen, Uschi, was sagste denn dazu? - Helga läßt schön grüßen, und den Kindern geht's auch gut. Helga meinte ja, ich sollte lieber nicht sofort anrufen, aber ich dachte, ihr freut euch wie wir... Ja... Ja. Jetzt fahren wir erst mal zu Bekannten, die haben wir vor fünf Jahren in Varna kennengelernt. Ganz nette Leute, wohnen in Schwäbisch-Sowieso. Obwohl: Familie ist doch was ganz anderes. Mensch, Uschi!“ Uschi Schultze (41) wollte das Herz schier stehenbleben. Minutenlang saß sie schweigend vor dem Telefon, Modell Dallas TX mit Tastenbeleuchtung. Aber die nutzte jetzt auch nichts mehr. Jetzt mußte alles ganz schnell gehen. Zuerst wählte sie die Dienstnummer ihres Gatten Wolfgang bei der BfA: „Wolfgang? Heribert hat gerade angerufen: Die sind jetzt nicht mehr im Osten, wenn du weißt, was ich meine. Die stehen mit Sack und Pack in Passau. Ingo und ich haben schon Mal im Atlas geguckt, wie weit das noch weg ist. Wolfgang? Nun sag‘ doch Mal was ...“ Wolfgang Schultze (43) behielt die Nerven und gab zwei kurze, präzise Anweisungen: erstens das Telefon bei der Post abmelden, zweitens bei der Meldestelle eine dringende Adressenänderung beantragen.
Von alledem durfte Oma nichts erfahren. Spätabends, wenn sie schon im Bett war, tagte nun bei Schultzes der Familienrat. Was wäre, wenn? Man könnte sie ja nicht einfach auf der Straße stehenlassen. Andererseits: Meike und der Säugling mit Ingo aufs Zimmer, Tante Helga und Onkel Herbert bei Oma - aber wohin dann mit Oma? „Eigentlich konnte ich Helga ja noch nie leiden“, seufste Uschi Schultze, „und die jetzt bei mir in der Küche. Und so schlecht ging's denen drüben ja auch wieder nicht. Schließlich haben sie jeden Monat Omas halbe Rente drüben verbraten.“
Und dann war es soweit: „Da sind wir!“, strahlte Tante Helga. „Freut ihr euch denn gar nicht? Und was wir alles mitgemacht haben. Wir haben so weinen müssen und die Kinder wollen nur noch schlafen. Ach, und ihr habt Rauhfaser an den Wänden.. und 'n Video. Mensch, Herbert, guck doch Mal, ein Video...“
Lutz Ehrlich, Suse Riedel
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