Sprung vom Mittelalter in die Neuzeit

Beim 1. Internationalen Heidelberger Rollstuhlmarathon locken Siegprämien 190 Sportlern aus 17 Ländern  ■  Aus Heidelberg Martin Heuser

Über ein Jahr lang hatte das achtköpfige Organisationsteam aus MitarbeiterInnen der Johanniter-Unfallhilfe Heidelberg und der Rollstuhlsportgemeinschaft Schlierbach (RSG) Hunderte von Briefen rund um den Globus geschickt. Dann war es klar: „Es wird der bestbesetzte Rollstuhlmarathon aller Zeiten. Die gesamte Elite der letzten Behinderten-Olympiade in Seoul hatte den Weg nach Heidelberg gefunden. In Zahlen ausgedrückt: 190 behinderte Sportler aus 17 Ländern Europas, den USA, Kanada und Afrika.

Die Spitzenathleten unter ihnen lockte weniger die Aussicht auf einen Wettkampf im Schatten des weltberühmten Schlosses als vielmehr satte Preisgelder in Gesamthöhe von 55.000 Mark. „Der Behindertensport muß aus seinem Schattendasein heraustreten“, befanden die Organisatoren, „Spitzenleistungen verdienen auch eine entsprechende Belohnung.“

Nur das Wetter zeigte sich geizig: Bleigraue Regenwolken fegten über die nahen Hänge des Odenwaldes und ein naßkalter Wind blies der ersten Startgruppe direkt ins Gesicht. Zweimal versagte die Startpistole, dann ein Knall und dreißig Männer sausten los, tiefgeduckt in ihren Spezialrollstühlen mit den weit nach Außen abstehenden Reifen.

Unterteilt in drei Klassen, je nach Grad der Behinderung, und nach Männern und Frauen getrennt, machte sich anschließend das gesamte Feld auf die Asphaltpiste zwischen Heidelberg und Walldorf. „Trotz miesen Wetters haben uns überall Leute erwartet“, freut sich die querschnittsgelähmte Dänin Ingrid Laritzon, Siegerin im Halbmarathon. Gestört haben sie nur die Autos auf der Strecke. Das Regierungspräsidium in Karlsruhe hatte sich außerstande gesehen, Abschnitte der B 3 und innerstädtische Straßen zu sperren. „Einmal hätte es fast einen Crash gegeben, weil ein Autofahrer die Hinweise der Polizisten nicht gesehen hat“, erinnert sich die weitgereiste Sportlerin. Und Zivildienstler, die zu Dutzenden als Helfer unterwegs waren, flachsten: „Hätte die Bezirkssparkasse einen Volkslauf organisiert, wäre der genehmigt worden.“

Die Gruppe der ersten Dreißig hätte ein Sturz mehr geärgert, galt es doch 2.500 Mark Siegprämnie, plus 5.000 bei Weltrekord, zu erfahren. Bisweilen kräftiger Gegenwind verhinderte jedoch Bestzeiten.

Nach einer Stunde und 43 Minuten hatte der Amerikaner Paul van Winkel die Marathondistanz (42,195 km) zurückgelegt, dicht gefolgt vom Weltrekordhalter Philippe Couprie (Frankreich). In weniger als einer Stunde hatte der Niederländer Jan Kleinheerenbrink den Halbmarathon gefahren. Ungläubiges Staunen lösten die Ergebnisse nur bei den Zuschauern aus, die ihren ersten Behindertenwettkampf erlebten.

„Wir sind Leistungssportler und wollen auch als solche anerkannt werden“, stellte Tage zuvor Heini Köberle, Mitorganisator und mehrfacher Goldmedaillengewinner kategorisch fest. Köberle ist sogenannter Tetraleptiker, d.h. von den Schultern abwärts gelähmt und mit Restfunktionen in Schultern und Händen. Er trainiert vor Wettkämpfen sechs Tage die Woche zwischen zwei und vier Stunden.

Mit einer Zeit von 2:39:05 belegte er in Heidelberg den 1. Platz in der Klasse I und ist damit so schnell wie ein recht guter Marathonläufer. Wie viele Kollegen vermarktet er seinen sportlichen Ehrgeiz mit Werbung für Unternehmen der Behindertentechnik. Teilnahme an Wettkämpfen im Ausland und die teure Ausrüstung - ein Gefährt aus superleichtem Titan kostet zwischen acht- und 15.000 Mark - wären sonst unerschwinglich. Drohen bald Auswüchse wie im Leistungssport? Köberle lacht: „Letztes Jahr in Seoul hatten wir heiße Dopingdiskussionen.“

„Behindertensport hat rein gar nichts mehr mit Therapie zu tun“, meint auch Prof. Volkmar Paeslack, Leiter der Querschittabteilung in der Orthopädischen Klinik Heidelberg -Schlierbach. Einer der es wissen muß: Paeslack hat in den Sechzigern die RSG Schlierbach gegründet, aus der heute die schnellsten Rollstuhlfahrer des Landes kommen. Die letzten 20 Jahre Entwicklung im Behindertensport sind für ihn wie ein „Sprung vom Mittelalter in die Neuzeit“: 1974 gelang es dem Amerikaner Bob Hall zum ersten Mal, die Langdistanz im Rollstuhl zu bewältigen. Heute versuchen sich immer mehr Rolli-Sportler an dieser Strecke. Ältester Teilnehmer in Heidelberg war Max Rhodes (USA) mit 76, ganze 13 Jahre zählte der jüngste Flitzer.

In zwei Jahren soll es wieder einen Marathon in Heidelberg geben. Dann sollen die Prämien für das internationale Teilnehmerfeld noch höher sein.