Kleider für die Nackten von Leros

Der griechische Gesundheitsminister unterzeichnete das von der EG unterstützte Rehabilitationsprogramm für die Internierten von Leros / Psychiatrieinsassen unter skandalösen Bedingungen verwahrt / Inzwischen treten die „Nackten“ aus ihrer Apathie heraus  ■  Von Klaus Hartung

Berlin (taz) - Auf einmal machten sie Schlagzeilen, die „Nackten von Leros“. Achtzig Männer mit kahlgeschorenen Köpfen, sommers wie winters nackt, an Betten gefesselt oder in kleinen Betonhöfen verwahrt, menschliche Endzustände eines Psychiatrielagers“ auf der griechischen Insel Leros, in der Nähe von Rhodos. Als erstes berichtete die taz (16.6.); am 10.September setzte der 'Observer‘ die „Nackten“ auf die Titelseite. „Europe's guilty secret“ (Europas versteckte Schande) war die Schlagzeile. Prompt folgte eine Pressewelle in Griechenland. Tenor: „Unsere internationale Blamage“ ('Eleftherotipia‘, 11.9). Nun mußte auch der 'Spiegel‘ reagieren und verdüsterte die Szene zu einem veritablen Todeslager, das beherrscht war von unsagbarer Gewalttätigkeit. Der 'Spiegel‘ vergaß allerdings hinzusetzen, das die erschreckendsten Augenzeugenberichte aus dem Jahr 1981 stammten. Inzwischen reagierten auch die politisch Verantwortlichen. Der Gesundheitsminister Miltiades Evert, zweiter Mann der Nea Demokratia und renommierter Ex-Bürgermeister von Athen, besuchte die Anstalt auf Leros. Erschütterung und Tränen notierte die griechische Presse. Er traf eine Reihe von Sofortmaßnahmen. Letzte Woche unterschrieb er das Rehabilitationsprogramm, das im wesentlichen von der Europäischen Gemeinschaft finanziert wird. Seine sozialistischen Vorgänger hatten dieses Programm immer wieder verzögert. Ein durchschlagender Erfolg der Öffentlichkeit also?

Das wäre eine grobe, ja verfälschende Vereinfachung. Schon im August hatte ein Teil der „Nackten“ Kleider bekommen und

-was vielleicht noch wichtiger ist -, der Rest trat aus der Apathie heraus, wollte Kleider und die anderen Dinge des Lebens. Bloße Skandalberichterstattung verfehlt nicht nur den gegenwärtigen Augenblick, sondern auch den eigentlichen Skandal, der in der jüngsten Geschichte der Insel liegt. In den fünfziger Jahren sollten die überfüllten griechischen Irrenhäuser modernisiert werden. Man entschloß sich, die Chronischen, Alleinstehenden, die „Asozialen auszulagern“. 1957 begannen die ersten Schiffstransporte auf die Insel, auf der es genug leerstehende Kasernen gab. Anfang der achtziger Jahre hatte das Lager 2.500 Insassen, die Treppen schliefen und mit den Händen essen mußten. Während der Diktatur wurden noch auf dem Gelände 600 politische Gefangene untergebracht. Erst 1981 protestierten anläßlich eines Psychiatriekongresses zum ersten Mal zehn Ärzte, die dort ihr praktisches Jahr machten. Es gab Artikel in griechischen Zeitungen. Mario Damolin veröffentlichte 1982 eine Reportage in der 'Frankfurter Rundschau‘. Anfragen und Proteste von Amnesty International folgten. Dieser Druck erbrachte ein Rehabilitationsprogramm, finanziert vom Sozialfond der EG. Insgesamt sind für das Programm fünf Millionen Mark angesetzt. Bis 1988 hat die griechische Bürokratie lediglich 20Prozent der Mittel verbrauchen können. Immerhin war es ab 1985 den griechischen Irrenanstalten nicht mehr erlaubt, ihre Insassen nach Leros zu verlagern. Bis 1988 gab es nur kritische Dossiers von der EG. Leros war wieder vergessen.

In der Männeranstalt „leben“ jetzt 800 Insassen. Mehr als 50 Prozent war weggestorben. Nur ein Arzt, trotz eines um 50 Prozent höheren Gehaltes, war bislang bereit, in der Anstalt verantwortlich zu arbeiten. (Die Frauenanstalt hat 300 Insassinnen. Bis heute hat noch kein Journalist diese Räume sehen können.) In der Anstalt wurde der Selektionsprozeß weitergetrieben. Am Ende der Anstalt, auch im buchstäblichen Sinne, wurden die Schmutzigsten, die Wehrlosen (im Jargon „Scheißerchen“) untergebracht. In Abteilung16 „die Nackten“.

Mitte 1988 begann neuer Druck. Abgesandte der „Demokratischen Psychiatrie“ aus Italiens hatten in Thessaloniki die Arbeit aufgenommen; besuchten Leros und begannen ein internationales Programm zu organisieren. Kritische Psychiater aus England, Italien, den Niederlanden, Irland besuchten die Insel. Zusammen mit dem Sozialfond wurde ein Trainingsprogramm für Pfleger angeboten. Freiwillige aus den genannten Ländern sollten die Arbeit aufnehmen. Eine Flut von Konferenzen, Programmen, Beschlüssen. Die griechischen Behörden setzten latenten Widerstand entgegen, verschoben die Verantwortung untereinander. Der sozialistische Gesundheitsminister vertagte die Entscheidung auf den Tag nach der Wahl Mitte Juni. Da Pasok die Wahl verlor, war er die Entscheidung los.

Aber: daß den Zuständen auf Leros ein Ende zu bereiten sei, war die Meinung aller Beteiligten. Allerdings favorisierten die konservativen griechischen Psychiater und Gesundheitsbürokratie eher eine administrative Auflösung, eine abrupte Rückdeportation. Frage war aber: wohin? An Geld hatte es nie gefehlt. Der Etat der Anstalt war doppelt so hoch wie der Haushalt der großen Irrenanstalten auf dem Festland. Das Lager ist nach wie vor die wichtigste Einkommensquelle der Insel. 7.000 Wählerstimmen sind unmittelbar von der Lagerökonomie abhängig. Mit der zunehmenden Skandalisierung der Situation wuchs die Angst der Pfleger um ihr Einkommen und mithin ihr Interesse an der Verbesserung der Situation der Internierten. Insofern haben die Szenen der Gewalt abgenommen. Die Sofortmaßnahme des Gesundheitsminister Evert, den Haushaltsansatz fürs Essen zu verdoppeln, war im Grunde unsinnig. Derlei Sofortmaßnahmen hat es in der Geschichte der Insel immer wieder gegeben.

Im Sommer, als Vorgriff auf das Rehabilitationsprogramm, nahm ein Gruppe aus Thessaloniki und aus Holland die Arbeit in jener Abteilung der „Nackten“ auf, bekleideten sie und brachten sie zurück ins Anstaltleben. Die Chance für ein Projekt der Animation von Totgesagten ist groß. Das in der letzte Woche beschlossene Programm sieht die Mitarbeit von Ärzten, Pflegern und Freiwilligen aus Italien, den Niederlanden, Irland und der Bundesrepublik vor. - Die griechische Presse übrigens hat nach dem ersten Schock der „internationalen Blamage“ angefangen, nicht nur über Leros, sondern auch über die anderen großen Irrenhäuser zu berichten. Am 25.April erschien in 'Eleftheropia‘ ein Foto von gefesselten nackten Jugendlichen. Untertitel: „Das ist nicht in Leros, sondern hier“, nämlich in Dafni bei Athen.