Nebelsprünge

■ „Die Gegenwart der Vergangenheit“ im Bonner Kunstverein

Ihr 2.000jähriges Jubiläum feiert derzeit die Hauptstadt der Republik (West), und diese 2.000 Jahre müssen auch heute noch gegenwärtig sein - sonst gäbe es womöglich gar nichts zu feiern. Unter der Leitung von Annelie Pohlen sucht der Bonner Kunstverein nach Spuren dieser Vergangenheit in der Kunst der Gegenwart. Natürlich steht eine solche Ausstellung, die durch die Klammer eines Themas in Form gebracht wird, immer unter dem Verdacht, eine auserwählte Zusammenstellung von Künstlern rechtfertigen zu wollen: hier ist es von Enzo Cucchi über Volker Tannert zu Jannis Kounellis, von den Poiriers über Mario Merz zu Ian Hamilton Finlay die Creme der großen Namen des gegenwärtigen Kunstmarktes, die sich ein Stelldichein gibt. Der Verdacht ist nicht ganz abzuschütteln: Zu hübsch ist der Titel, als daß er sich nicht über jedes Werk stülpen ließe. Und dann wollen ja mindestens 2.000 Jahre europäischer Kulturgeschichte auf dem „kreativ forschenden Streifzug durch die archäologischen Depots“ sichtbar gemacht werden. Ein solcher Streifzug dient ganz der Ortung der Gegenwart in ihrer geschichtlichen Befindlichkeit.

Die Gegenwart der Vergangenheit ist im Kunstwerk die Spur einer Erinnerung. Diese Spur erscheint bald als Plauderei in der Chirico-Magritte-Nachfolge (Paolini, Mariani), bald als die Sprachlosigkeit vor einer Erinnerung, die von der Auslöschung handelt. Arnulf Rainers Übermalungen aus dem Hiroschimazyklus lassen jede Geschwätzigkeit eines geschichtlichen Rückgriffs verstummen: düster übermalte Ruinenfelder und Leichen. Diese Bilder tendieren auf ein Dunkel, in dem es nichts mehr zu sagen und nichts mehr zu sehen gibt. Arnulf Rainer charakterisiert die Blätter als „Anläufe in ein Nichts, Nebelsprünge“, eine entscheidende Variante von Kunst angesichts des drohenden Endes der Geschichte.

Die Gegenwart der Vergangenheit - das kann aber auch heißen: der Ausstieg aus einer Geschichtlichkeit, die uns ja erst in den letzten 200 Jahren die Existenz zu bestimmen scheint; kann heißen: die Erneuerung des Mythologischen, die Eröffnung eines Raums des Heiligen. Lili Fischer hat in diesem Zusammenhang eine Kraut& Zauber-Laube aufgebaut („Will jemand mit den Vilen (unheimliche Geister) Wahlschwesternschaft eingehen...“). Natürliches wird gesammelt und geordnet, Künstlisches eingefügt und in die gleiche Ordnung versetzt. Der magisch gewendete Traum vom Kaufmannsladen eröffnet, so scheint es, einen spezifisch weiblichen Zugriff auf die Welt und ihr Unsichtbares. Die Dinge wollen gesammelt sein, und die Vergangenheit ist der Traum der Gegenwart.

Daß die Dinge verschwinden und mit ihnen die ganze Litanei von der Moral und der Betroffenheit, die ja gerade in Deutschland (West) jede Erinnerungsarbeit bestimmt, das läßt erst jene Kunsträume entstehen, in denen Heiliges und die vollständige Profanität sich als Extreme berühren, überlappen - und so vielleicht eine ganz scharfe Zustandsbeschreibung der Gegenwart ermöglichen. Loic Le Groumelec malt auf große Formate Menhire, die sich grau vom etwas helleren Hintergrund abheben, der keiner ist. Gekrönt durch ein Kreuz, dessen Herkunft so ungewiß ist wie die der Megalithen selbst, erscheinen sie als eine eigene Welt, ein heiliger Bezirk - Zeuge einer Welt ohne Mensch; das Denkmal verstummt, ohne dadurch Mahnmal zu werden. Rune Mields Systemobsession antwortet auf seltsame Weise: hier ist Kunst vom Ende des Menschen und vom Ende des Sinns aus dem Ungeist der binären Logik. Rune Mields stellt eine dreiteilige Arbeit aus:Francis Bacon in memoriam. Abgebildet wird die Weiterentwicklung eines binären Systems durch Francis Bacon, der 1623 in seiner Schrift De dignitate et augmentis scientarum versuchte, die Buchstaben des Alphabets durch fünfstellige Kombinationen von a und b darzustellen. Auf drei Fünfteln der ersten Tafel liegt alles gegründet, was das Abendland zu sagen hat. Alles andere ist die Möglichkeit einer Rechnung - Überschuß, Rest. Der Sinn verschwindet, die Geschichte implodiert, bleibt das System, bloßer Nonsens, der zugleich Sinn ermöglicht und ihn auf den Unsinn zurückführt. Hier wie dort werden die Zeiten kurzgeschlossen und stillgelegt, um so, indirekt, die These vom Ende der Geschichte zu erhärten. Ein Universum eröffnet sich, in dem zugleich alles und nichts gesagt und gesehen worden ist.

Die Ausstellung, in der der ironische Gestus unverhältnismäßig zu kurz kommt, hat als geheimes Zentrum eine Figur, die den Indifferenzpunkt von Geschichte und Ästhetik andeutet. Albert Speer, der Architekt des Nationalsozialismus, ist gleich dreimal präsent: in einer Installation Viola Kiefners, die von der Gewalt der Nazibauten erzählt; in einer Fotoarbeit von Matthias Wähner, der in einer historisch-ästhetischen Sequenz auf eine eingefärbte Abbildung des Nürnberger Lichtdomes - Albert Speer umrandet den Reichsparteitag mit Flakscheinwerfern; magentarot gemahnt dieses Bild an den apokalyptischen Weltenbrand - das verdoppelte Bild eines alten Mannes vor einem romanischen Portal folgen läßt; und schließlich findet sich im Katalog ein Gemälde Volker Tannerts, in dem Lichtkeile senkrecht die Leinwand zerschneiden. Unsere Wünsche wollen Kathedralen bauen heißt dieses Bild - und um diesen Wunsch und seine An- und Abwesenheit kreist, hoffend und bangend, gläubig und skeptisch, die Bonner Ausstellung; heimlich verschiebt sie den Blick von der Gegenwart der Vergangenheit auf die Möglichkeit einer Zukunft.

Armin Adam

Die Ausstellung ist bis zum 26.November täglich außer Montag geöffnet. Der Katalog, der mit der Ausstellung nicht ganz deckungsgleich ist, kostet 33 DM.