Joseph Beuys und Michael Ende

■ Auszüge aus einem Gespräch vom 8.Februar 1985 in der Freien Volkshochschule Argental-Wangen im Allgäu

Ende: „Ich versuche, in meiner Arbeit - unzulänglich oder nicht - Vorstellungen von dem zu entwickeln, was dem Menschen als Wert erscheinen kann, was er überhaupt wollen kann, um sich daran zu orientieren. Solche Wertvorstellungen sind ja nicht einfach von allein, sozusagen von Natur aus, vorhanden. Sie müssen gebildet und lebendig gemacht werden. Wir kommen mitten aus dem finstersten Materialismus, in dem alle diese Dinge zum Teufel gegangen sind. Das Wirtschaftsleben kann man nicht aus wirtschaftlichen Überlegungen allein erlösen, sondern um das Wirtschaftsleben zu erlösen, muß etwas dazu kommen, was nicht aus dem Wirtschaftsleben stammt.“

Beuys:„Ja, das ist das Rechtsdokument Geld und davor liegend die einleitende Wirkung, das heißt die stimulierende Wirkung aus dem Nichts heraus, der kreative Akt im Geist des Lebens. Das ist doch der organische Vorgang.“

Ende: „Wenn ich Sie recht verstehe, dann sagen Sie: Ein starkes Geistesleben entwickelt sich von selbst, wenn die freiheitlichen Bedingungen geschaffen werden. Ich sage dagegen: Erst muß ein starkes Geistesleben da sein, dann schafft es sich schon seine freiheitlichen Bedingungen. Man könnte es auch auf die Formel bringen 'Freiheit, wovon' und 'Freiheit, wozu'. Der Wille als solcher ist ja noch nichts. Der freie Wille ohne Inhalt ist ein leeres Vermögen. Der Wille muß ein Ziel bekommen, damit er ein movens wird. Sie müssen den Willen an eine Vorstellung binden. Sie können den freien Willen als solchen überhaupt nicht in Bewegung setzen. Sie müssen eine Vorstellung haben, was Sie mit diesem Willen erreichen wollen.“

Beuys:„Aber ist es jetzt nicht so, wenn wir alle bescheiden Auskunft geben über das, was wir über diese Sache sagen können, daß wir feststellen müssen, daß wir das als Menschen getätigt haben, einfach als Menschen? Und daß wir doch nicht von der Annahme ausgehen, daß wir das nur alleine können, weil wir es so sagen können. Ist es denn nicht geradezu ein Beweis, daß, wenn wir die Sache so schildern können, sie im Grunde auch alle anderen Menschen schildern können?“

Ende:„Aber selbstverständlich.“

Beuys:„Dann brauchen wir doch gar nichts mehr zu antizipieren, sondern wir brauchen doch nur mit anderen Menschen über diese Dinge zu sprechen. Dann werden wir feststellen, daß der andere sagt: Ja, das habe ich auch schon gedacht oder gefühlt. Eines Gründonnerstags ist mir die Laterne aufgegangen. Ich hab‘ das wieder vergessen, laß uns doch mal mit dem Köbes (niederrheinische Form für Jakob, übertragbar auf jeden Menschen) darüber sprechen. Dann sagt der todsicher: Ja, eigentlich habe ich das auch schon lange gedacht. Wir dürfen doch nicht so eingebildet sein, daß, wenn wir die Dinge denken können, wir dann damit sagen wollen, daß andere das nicht können. Wir sind also ganz besondere Extrawürste, wir sind ganz besondere Intelligenzbestien, denn wir können das ja nur alleine. Das wäre doch überhaupt ganz schlecht, und so ist es doch auch in der Tat niemals in der Wahrheit, wenn wir feststellen, daß wir zu diesen Ergebnissen ja nicht gekommen sind aus uns selbst, sondern daß das alles ruht auf Schultern von Menschen, die vielleicht längst gestorben sind. Da spielt Goethe eine ganz wichtige Funktion, da spielen Schiller und Novalis eine ganz wichtige Funktion, gut, da spielt auch James Joyce eine Funktion, da spielt Rudolf Steiner eine wichtige Funktion. Wir können ja nun auch nicht sagen, daß das alles nur aus uns kommt; denn der Mensch fußt auf den Leistungen derjenigen, die das vor ihm auch bereitet haben.“

Ende:„So meine ich das auch. Das ist es eben, was wir tun können. Das genau, was Sie jetzt aufgezählt haben als letztes, nämlich, daß die einen Werte und Ideen geschaffen haben, und die anderen können sagen: Der spricht aus, was ich immer schon fühlte. Ich konnte es nur nicht formulieren, aber er sagt es jetzt, er hat's zu fassen gekriegt. Genau das kann man tun.“

Rappmann: „Ist das nicht die Funktion des Künstlers? Also wäre etwa Steiner ein Künstler.“

Ende: „Nein, die künstlerische Form ist etwas anderes als Erkenntnis. Ein Philosoph ist kein Künstler, auch wenn er ein kreativer Philosoph ist.“

Beuys: „Im traditionellen Kunstbegriff nicht, das ist richtig.“

Ende: „Ein Wissenschaftler, ein Denker, auch wenn er noch so Wichtiges gesagt hat, oder ein Heiliger ist kein Künstler, auch wenn er vielleicht Neues geschaffen hat...“

Rappmann: „Die Qualität liegt doch gerade darin, ob er etwas Richtes oder etwas weniger Richtiges gedacht hat. Oder worin liegt die Qualität des Künstlers?“

Ende: „Nein, nein! Kunst ist keine Sache der Wahrheit, jedenfalls nicht in diesem Sinn. Aber das ist jetzt wieder ein langes Extrathema.“

Beuys: „Lassen wir doch die Vergangenheit ruhen! Stellen wir fest: Die Schwelle ist das Ende aller Traditionen, und alles, was für Hegel gegolten haben mag, daß er eben Denker war und kein Künstler, hört auf, jenseits der Schwelle!“

Weitbrecht: „Mir scheint, daß hier die einen nur vom Denken reden und Du etwa (zu Ende) von den Bildern und von der Poesie. Sie (zu Beuys) wollen es vordenken oder andenken. Mir ist das, was Sie sagen furchtbar abstrakt und intellektuell.“

Beuys: „Nein, ich will nicht vordenken. Ich will nur das tun, wozu heute jeder Mensch verpflichtet ist: Auskunft zu geben über das, was er tut. Ich will nur wahr machen, daß die moderne Gesellschaft eine öffentliche ist und daß ich nicht ein Selbstversorger bin und ein ganz gemeiner spiritueller Egoist, wenn ich aus meinen Arbeitsergebnissen, die in meiner Werkstatt entstehen, dem Menschen keine Auskunft gebe, sondern ich frage: Ich bin ein Mitmensch von euch, habe ich hier Scheiße gebaut, oder kann man da irgendetwas mit anfangen? Jeder Mensch ist heute verpflichtet, Auskunft zu geben über das, was er produziert. Das ist meine Forderung. Und ich bin davon überzeugt, daß die Menschen sehr munter würden dabei. Wenn sie nach der These verfahren: 'Zeige Deine Wunde!' (Titel einer Beuys -Installation (1974-76), die heute in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München untergebracht ist), zeige ruhig auch den größten Dreck - denn das ist das allergrößte Erlebnis - lege das auf den Tisch und mache es zum Gegenstand einer permanenten Konferenz über Menschheitsfragen! Ich glaube, dann werden wir sehr schnell am Ziele sein, wenn wir das praktizieren. Man kann es auch ruhig sagen: Die Menschen müssen miteinander sprechen über das, was sie produzieren, was sie denken, was sie fühlen, welche Bildungsabsichten sie haben.“

Ende: „Auskunft geben, also erklären kann man natürlich nur bis zu einem gewissen Grad. Wenn Sie einen Pianisten fragen: Wie machst Du das eigentlich, daß Du so scheinbar mühelos mit der linken Hand etwas ganz anderes spielst als mit der rechten, dann wird er sagen: Ja, ich habe halt 20Jahre geübt...“

Beuys: (heftig) „Sie kommen immer wieder auf diesen Scheißkünstler zurück, diesen Verbrecher, dieses Arschloch, diesen impotenten Hund, der doch alles verhindert, der die Umwelt verschmutzt! - natürlich nicht, weil er Klavier spielt, sondern weil er es versäumt, auch noch darüber nachzudenken, was an der Schwelle passiert mit seiner Kunst; daß er eben noch sehr viel mehr leisten muß als - sagen wir mal - Virtuose auf dem Klavier zu sein. Jenseits der Schwelle wird vom Menschen mehr gefordert. Da wird gefordert, daß zu dem, was erworben ist in der Geschichte an Begrifflichkeit für die Kunst, noch eine weitere Disziplin hinzukommt, die alles andere umfaßt, die quasi der Lebensbereich und die Plazenta dieses Lebewesens, des sozialen Organismus ist. Wenn er das nicht tut, wird er mit Sicherheit ein schlechter Pianist. Deswegen haben wir ja so viele schlechte Pianisten. Die werden ja heute schon mit Computer trainiert, wie Rennpferde trainiert. Die Japaner machen alles mit Maschinen. Eine solche Musik, die wollen wir doch gar nicht mehr hören, das ist wirklicher fieser, dreckiger Konzerthausscheiß. Ich sage das jetzt mal so, wie ich das erlebe. Da ist mir doch jedes Kind, das versucht, ein Lied zu singen da in der Kammer, ist mir doch lieber und sei es noch so unvollkommen - als das, was heute im Konzertbetrieb passiert. Vom Theater brauchen wir doch gar nicht zu reden: diese subventionierte Nichtbedürfnisanstalt. Kein Mensch würde da noch hingehen, wenn es nicht sozusagen stimuliert wäre so vom Bildungstrieb, den die Menschen noch haben, oder vom Statussymbol. Substantiell ist doch aus diesen Anstalten nichts mehr zu holen. Die kann man getrost schließen. Wenn man wirklich ernsthaft über diese Dinge nachdenkt, meine ich, könnte man gar nicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Dann käme man wieder zu ganz anderen, viel bescheideneren Vorstellungen in bezug auf die Kunst, nicht diesen ganzen verstaatlichten Dinger da, ganz bescheidene Versuche.“

Ende: „Verstaatlicht muß es ja nicht sein; das ist eine ganz andere Frage. Aber ich kenne eigentlich keine Menschengemeinschaft, von den primitivsten Menschengemeinschaften angefangen, in denen das Bedürfnis nach Schönheit überhaupt keine Rolle spielt.“

Beuys: „Nein, das soll ja im Mittelpunkt stehen! Aber das Schönste vom Schönen muß ja erst erreicht werden: der soziale Organismus als Lebewesen in seiner Freiheitsgestalt und als die große Errungenschaft einer Kultur jenseits der Moderne und jenseits der Tradition. Das heißt, wenn das die Weltmitte ist, geschieht nach der Weltmitte etwas viel Gigantischeres als jemals zuvor in der Geschichte. Wenn wir da nicht zu den Sternen greifen, werden wir gar nichts tun.“

Ende: „Abstrakt gebe ich Ihnen ja recht, ich kann mir nur darunter nichts vorstellen. Es ist ein Wort für mich.“

Beuys: „Was ist ein Wort für Sie?“

Ende: „Ja, daß der soziale Organismus eben schön ist, da kann ich mir nichts darunter vorstellen, da weiß ich nicht, wie das aussieht.“

Beuys: „Schön heißt doch vor allen Dingen in der alten Koppelung der sogenannten philosophischen Ästhetik - etwa von Baumgarten (A.E. Baumgarten: „Aesthetica“ (1750/58)) oder solchen Leuten -, da heißt es: Wahrheit, Schönheit, Güte. Es ist immer eine Dreiheit. Es wird nicht nur von Schönheit geredet, sondern von den organischen Zusammenhängen dieser drei Dinge. Sie müssen erfüllt werden, und sie müssen anwendbar sein auf die menschliche Gestaltung.“

Ende: „Aber ich kann mir auch das Paradies nicht vorstellen, die vollkommene Harmonie, ein zukünftiges Jerusalem oder eine zukünftige Erfüllung, ein Zusammenfallen aller Gegensätze in eins, kann ich mir nicht vorstellen. Ich kann es zwar abstrakt denken, aber nicht konkret vorstellen.“

Beuys: „Doch, irgendwann kann ich es mir vorstellen, irgendwann, ja.“

Ende: „Ich kann ahnen oder darauf vertrauen, daß es irgendwann sein wird, aber ich kann es mir nicht konkret ausmalen; ich weiß nicht, wie das sein soll. Ich kann es mir auch noch gar nicht einmal wünschen. Wünschen kann ich mir nur etwas, das ich mir konkret vorstellen kann. Ich kann mir immer nur den nächsten Schritt vorstellen, das, was jetzt als Nächstes zu tun ist. Und da ist es eine Tatsache, daß das Schöne und das Gute und das Wahre halt nicht zusammenfallen.“

(...)

Beuys: „Aber was mich mal interessieren würde: Welche Art von Literatur schätzen Sie am meisten? Haben Sie irgendeine Beziehung zu solchen Menschen, die ja ähnliches versucht haben, wie Tolkien und so was?“

Ende: „Tolkien nicht so sehr. Tolkien habe ich als Schmökervergnügen gelesen. Mit Vergnügen, wie ich zugeben will. Borges hat mich dagegen sehr beeindruckt.“

Beuys: „Ja, aber das ist natürlich eine ganz andere Ebene.“

Ende: „Ja, dann, ja, wie heißt er noch, der mit den 'Hundert Jahre Einsamkeit‘? - Marquez -, überhaupt, was in letzter Zeit in Südamerika geschehen ist. Das ist ja fast das Interessanteste, was in letzter Zeit auf dem Literaturgebiet geschehen ist, das sogenannte südamerikanische Neo-Barock. Dann gibt es noch andere, die in Deutschland kaum bekannt sind, z.B. eine dänische Schriftstellerin namens Tanja Blixen, die man in Deutschland fast nur mit ihren Afrika-Büchern kennt, die aber das Unwesentlichste sind, sondern die eine Menge von Erzählungen geschrieben hat, die ich wirklich für hoch bedeutsam halte. In letzter Zeit beschäftige ich mich sehr viel mit kabbalistischen Schriften, weil ich bemerkt habe, daß da ein ungeheuerliches Gedankengebäude vorliegt, das eigentlich fast unbekannt ist.“

Beuys: „So, wie Eliphas Levi oder so was?“

Ende: „Nein, Eliphas Levi habe ich früher schon mal gelesen. Nein, zur Zeit die Bücher von Friedrich Weinreb, das dürfte wahrscheinlich der letzte lebende große Kabbalist sein, den es noch gibt.“

Beuys: „Der ist doch aus der Prager Schule, glaube ich.“

Ende: „Nein, er ist holländischer Jude.“

Beuys: „Nein, ich verwechsle das. Es gibt einen aus der Prager Schule, der heißt fast ähnlich, der heißt Wein... fast genauso, auch ein Kabbalist.“

Ende: „Also, dessen Bücher lese ich zur Zeit mit großem Gewinn, der hat mir einfach mal die ganzen biblischen Begriffe erklärt, die ich noch nie so verständlich erklärt gefunden habe.“

Beuys: „Weininger, heißt der.“

Rappmann: „Ich muß sagen, daß ich auf diesem Gebiet wenig Ahnung habe. Aber was mich in dem Zusammenhang einmal interessieren würde: Du hast doch viel mit James Joyce gearbeitet.“

Beuys: „Ja, sehr viel.“

Rappmann: „Haben Sie damit etwas zu tun gehabt, haben Sie sich damit einmal beschäftigt?“

Ende: „Nein, ich habe das Wichtigste von James Joyce gelesen, aber ich habe mich sonst damit nicht weiter beschäftigt.“

Rappmann: „Können Sie damit etwas anfangen?“

Ende: „Nicht viel, nein. Er ist der - wie man sagt - Vater der modernen Literatur in Europa, aber es ist genau die Literatur, das Literaturverständnis (bei Joyce), welches ich nicht teile, was zwar eine sehr große Rolle gespielt hat, aber von dem ich glaube, daß es vorbei ist.“

Beuys: „Ich fand es interessant, als Sie vorhin sprachen von dem Element der Größe. Ich glaube, das größte Verdienst von Joyce ist, daß der die Größe auf die einfachen Menschen gelegt hat und daß er bei diesem Vorgang sogar noch ein sehr starkes mythisches, irisches Element mitbeachtet hat. Denn die Konsequenz, die er vor sich hatte, als er diese einfachen Menschen von der Straße in Dublin so charakterisiert hat, wie sie meines Erachtens gar nicht besser zu charakterisieren sind in ihrer Größe - als, wie gesagt, ganz einfache Menschen -, hat er als Folge 'Finnegans Wake' geschrieben, als das wirkliche Losmachen von Elementargeistern. Denn die Sprache, ist nicht, wie Handke sagt, eine einfache Stakkato-Sprache, die also Gesetze von Charlie Chaplin beachtet. Es ist der Versuch - so erlebe ich das -, die Sprache der Druiden zu wiederholen: das Geraune, also in einer Sprache zu sprechen, die nicht mehr durch den semantischen Inhalt verständlich wird, sondern durch das Geraune. Und er hat eigentlich sehr viel, meines Erachtens, getan, um die Elementargeister anzusprechen. Er hat meines Erachtens in eminentem Sinne eine mythologische Großleistung getätigt. Und ich habe einmal gesagt - über Joyce -, daß er den Himmel über Irland verändert hat dadurch, und dazu stehe ich auch. Das heißt, er hat meines Erachtens im Gegensatz zu dem, was die meisten Literaten und Literaturkritiker schreiben, eigentlich gar keine moderne Literatur geschrieben. Das spielt natürlich auch eine Rolle: die Zerstörung der Sprache, die Mehrschichtigkeit usw. Aber in ihm liegt tatsächlich eine Fähigkeit, das Geraune der ganz alten Anfänge der irischen Kultur herauszutragen und dadurch tatsächlich wieder etwas in Bewegung zu setzen in bezug auf das Wirksamwerden solcher Naturgeister. Das ist jedenfalls meine Sicht von Joyce.“

Ende: „Ich äußere mich immer sehr ungern über irgendwelche Autoren, weil ich finde, es ist nicht meine Aufgabe, andere zu beurteilen. Es gibt natürlich Schriftsteller, die mir persönlich mehr sagen, und welche, die mir weniger sagen. Und zwar aus einem ganz schlichten Grund: weil sie auf meinem Weg liegen, und ich mich mit ihnen auseinandersetzen muß. Es gibt andere, mit denen muß ich mich nicht auseinandersetzen, weil sie gar nicht auf meinem Wege liegen. Das lese ich dann mit Interesse, aber es kommt nicht zu einer eigentlichen Auseinandersetzung. Und bei Joyce ist es für mich nicht zu einer Auseinandersetzung gekommen, weil er von vornherein etwas ganz anderes anstrebt als das, was ich anstrebe. Es ist eine Literaturauffassung, die sehr viel zu tun hat mit unserem wissenschaftlichen Literaturbetrieb, die bei Joyce eine große Rolle spielt, schon diese Wortalchemie, seine Sprachmischung, seine polyglotten Romane, gerade 'Finnegans Wake', der also in sieben Sprachen gleichzeitig geschrieben ist.“

Beuys: „Aber zu einem höheren Zweck.“

Ende: „Ich bin halt ein Geschichtenerzähler. Ich will Geschichten erzählen. Es gibt ja eine ganze Literatur, die mit Joyce ihren Anfang genommen hat, die eigentlich gar nicht darauf aus ist, Geschichten zu erzählen. Das ist nicht ihr Ziel.“

Beuys: „Das ist richtig.“

Ende: „Wo stilistische Überlegungen an erster Stelle stehen, wo es eigentlich auch gar nicht mehr darauf ankommt, welche Geschichte sie erzählen, sondern nur noch darauf, wie sie erzählt ist. Was mein Konzept betrifft, so hatte ich da mal ein Schlüsselerlebnis: Ich habe mal erlebt in Palermo, da sitzen auf dem Hauptplatz, so ab fünf Uhr nachmittags, Cantastori - so nennt man die -, die Geschichtenerzähler, herum. Da sitzen die Leute so im Kreis drumherum - eigentlich fast nur Männer und Buben natürlich, für Frauen schickt sich das dort nicht - und die erzählen Geschichten, und einem hörte ich eine Weile zu. Es kam mir irgendwie bekannt vor, was der da erzählte. Und dann fragte ich, nachdem er mal eine Pause machte: Sagen Sie, was ist das für eine Geschichte, die Sie da erzählen? Und da sagt er: Das ist ein Roman von Alessandro Dumas, also Alexandre Dumas; den hat er von seinem Großvater geerbt, und da hat er seinen Beruf daraus gemacht und erzählt jetzt mit sämtlichen eigenen Ausschmückungen diese Story.“

Beuys: „Ja, wunderbar!“

Ende: „Da habe ich mir gedacht, das wäre ein Ziel, das muß man erreichen: Solche Geschichten schreiben, die dann die Märchenerzähler in Palermo auf der Straße erzählen können. Das wäre das Richtige. Das können Sie natürlich mit dem 'Ulysses' von Joyce nicht machen. Der wird niemals von einem Märchenerzähler auf der Straße erzählt.“

Beuys: „Aber das können Sie mit Borges noch viel weniger machen. Borges ist meines Erachtens ein noch viel hochgestochenerer wissenschaftlicher Literat.“

Ende: „Nein, mit Borges geht das natürlich auch nicht.“

Beuys: „Ich finde, im Vergleich zu Borges ist Joyce ein ganz schlichter Geschichtenerzähler. So relativ ist das.“

Ende: „Ja, nun muß ja nicht jeder Schriftsteller ein Geschichtenerzähler sein. Ich beschränke mich ja ganz bewußt auf meine Möglichkeiten, und damit interessieren mich bestimmte Formen der Literatur mehr als andere. Also etwa Musil usw., das lese ich wohl, das liegt aber gar nicht auf meinem Weg. Musil erzählt kaum richtige Geschichten. Bei Musil ist die Formulierung, und zwar die literarische, die geschriebene Formulierung das Wichtige. Man kann sie fast schon gar nicht mehr sprechen, die Sätze, zum Teil, weil sie so literarisch formuliert sind. An dem gehe ich sozusagen einfach kritiklos vorüber, das betrifft mich nicht.“

Beuys: „Aber nun besteht natürlich ein Großteil der Literatur aus Erzählungen. Da gibt es ja eine Fülle.“

Ende: „Von Musil meinen Sie jetzt?“

Beuys: „Nein, überhaupt, von erzählender Literatur gibt es ja gigantische Sachen.“

Ende: „Aber Sie wissen, daß ja auch da in den letzten 20, 30 Jahren eine totale Krise eingetreten ist. Man durfte gar keinen Roman mehr schreiben, der eine große Geschichte erzählte.“

Beuys: „An so etwas denke ich gar nicht: Gruppe47. Ab da ist sowieso der Ofen aus. Nein, ich meine, Literatur, erzählende Literatur. Da gibt es doch fantastische.“

Ende: „Natürlich, es gibt wunderbare...“

Beuys: „'Moby Dick' ist doch erzählende Literatur.“

Ende: „Das ist eine große Erzählung. Die kann auch ein Märchenerzähler in Palermo auf der Straße erzählen.“

Beuys: „Aber auch ganz entgegengesetzte Absichten. Hans Christian Andersen ist auch ein toller Erzähler.“

Volk: „Ich habe in Ihrer Biographie gelesen, daß Sie den 'Ulysses' um einige Kapitel...“

Beuys: “... verlängert haben. Im Auftrag von James Joyce. Ja!“

(Lachen)

Volk: „Mich interessiert, wo man dieser Verlängerung lesen kann.“

Beuys: „Die kann man gar nicht lesen, sie besteht nur aus Linien. Das ist eine Bilderfolge...“

Volk: „Ist das auf Papier niedergelegt?“

Beuys: „Ja, in so einem Buch. Das sind sechs Bände, kleine Bände. Das sind Zeichnungen, die sind fast ultravisibel, die kann man kaum sehen.“

Volk: „Zeichnungen?“

Beuys: „Ja, es sind nur Linien und auch einige Farbseiten. Es treten immer wieder Farben auf.“

Volk: „Muß man denn zwischen den Zeilen lesen, um das Kapitel lesen zu können?“

Beuys: „Ja, so wie man ein Bild anguckt.“

1989 - Freie Volkshochschule, Argental-Wangen; Nachlaß Joseph Beuys, Düsseldorf; 'Litera‘, Buch- und Verlagsaktiengesellschaft, Basel.