Zugzwang

Die Einheitsfront der SED bröckelt - der Dialog steht aus  ■ K O M M E N T A R E

Die gesellschaftliche Isolation der DDR-Opposition ist zu Ende. Was vor zwei Monaten schwer vorstellbar schien, die Mobilisierung der Unzufriedenheit für Reformen im Lande, wird jetzt allabendlich auf den Straßen von Leipzig, Dresden, Ost-Berlin praktiziert. Als geniale Idee scheint sich zu erweisen, was anfänglich noch als Verlegenheit der Neuen-Forum-InitiatorInnen interpretiert wurde: die Minimalforderung eines Dialogs über die zukünftige Entwicklung und eine fast peinlich anmutende Scheu vor programmatischen Aussagen zur Reform des Systems. Der zurückhaltende Impetus, mit dem die GründerInnen um Unterstützung für eine inhaltlich offene Reformbewegung von unten warben, scheint den „Brückenschlag in die Gesellschaft“ ermöglicht zu haben, den die oppositionelle Szene zwar seit Jahren beschworen, aber nie erreicht hatte. Indem das Neue Forum die Unzufriedenheit artikulierte, ohne zugleich die fertigen Zielperspektiven vorzugeben, entsprach es dem weitverbreiteten Bedürfnis der jahrzehntelang schweigenden Mehrheit, die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse einzufordern, ohne erneut in eine Struktur aus Besserwisserei und Bevormundung eingespannt zu werden.

Befindet sich die SED bereits seit Monaten in Zugzwang, so ist ihr Handlungsspielraum mit der gesellschaftlichen Resonanz auf die Basisbewegung erheblich geschrumpft. Genügte es noch im Januar '88 einige Symbolfiguren der Szene erst in den Knast und dann in den Westen zu schicken, so dürften solche Maßnahmen schwerlich greifen, seit in Leipzig ganze Belegschaften mit der Parole „Neues Forum“ auf die Straße gehen.

Was in den Wochen vor dem Geburtstag mit Rücksicht auf den schönen Schein vermieden wurde - die Unterdrückung der oppositionellen Ansätze - ist nach der mißglückten Feier zum schwer kalkulierbaren Risiko für die Machtelite geworden. Doch die massive Repression bleibt denkbar, solange das Parteiorgan mit der Parallele China / DDR auf der Titelseite erscheint. Die Dialogforderung der Bezirksparteisekretäre aus Leipzig, deren Formulierung aus einem Forum-Papier stammen könnte, zeigt zwar, daß der Konformitätszwang selbst in den höheren Etagen der Partei nicht mehr ausreicht, um alternative Optionen unter der Decke zu halten. Dennoch wäre es voreilig, erste Anzeichen der bröckelnden Einheitsfront schon als Reformsignal zu werten. Solange Ost-Berlin propagandistisch auf Durchhalten setzt, sind die kirchlichen Appelle für eine Demonstrationspause verfrüht. Über die ließe sich verhandeln, wenn die Führung den Dialog anbietet.

Matthias Geis