Boat people und Pantoffelrevolutionäre

Zu den Reaktionen westdeutscher Linker auf die DDR-Flüchtlinge  ■ D E B A T T E

Nichts ist unangenehmer, als von der Geschichte überrascht zu werden; erst recht, wenn man sich als geschichtsbewußtes, gar geschichtsträchtiges Subjekt betrachtet.

Die massenhafte Flucht von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik und ihre unabsehbaren Konsequenzen haben nicht nur das SED-Politbüro und das Bonner Establishment, sondern auch die westdeutsche Öffentlichkeit auf dem falschen Fuß erwischt. Während die rechtgläubigen Bürger, Politiker und Parteien jedoch rasch wieder auf zwei Beinen standen, den „Landsleuten von drüben“ im „freien Teil Deutschlands“ zujubelten und sich über die jungen, guterhaltenen und tatendurstigen Neubürger hellauf begeistert zeigten, verharrten viele Linke in einer sprachlosen Zwitterstellung. Auf der einen Seite die unbestreitbar und immer offensichtlicher unhaltbaren Zustände in der DDR, auf der anderen Seite der Triumph der politischen Rechten, die plötzlich die „Wiedervereinigung“ vor der Tür stehen sieht. Das Freiheitspathos klingt vielen ehemaligen (und gegenwärtigen) Kämpfern gegen den „BRD -Imperialismus“ hierzulande wie ein Echo des „kalten Krieges“. Angesichts dieser Desorientierung griffen manche linke Kommentatoren - ebenso wie verdiente Mitglieder der grün-alternativen Basis - zu einem bewährten Hausmittel: der Ideologiekritik mit ihrer erkenntnisleitenden Frage „cui bono“ - wem nützt das alles? Der Hinweis auf die Elenden und Unterdrückten in der Welt, die nicht mit Sonderzügen ins „Land von Hitlers Enkeln, den natürlichen Ekeln“ (Klaus Theweleit) gebracht werden, besorgte den Rest.

Bereitwillig wurden auch an linken Stammtischen Ressentiments gegen die politisch suspekten DDR-Flüchtlinge mobilisiert: Sie seien ein rechtes Wählerpotential, bedrohten die Chancen westdeutscher Arbeitsloser und nähmen Emigranten anderer Länder (und einheimischen GenossInnen) die Wohnungen weg. Geschwenkte Deutschland-Fähnchen, bis aufs bloße „D“ abgekratzte Autokennzeichen und stolz vorgezeigte Pässe der Bundesrepublik galten vielen ebenso als Beweis für gefährliche nationalistische Leidenschaften wie die Tränen auf den Bahnhöfen von Passau, Helmstedt und Hof, die von den sensationsgierigen Massenmedien in Wort und 'Bild‘ festgehalten wurden. Der in aller Eile aufgeschüttete Damm linker Gewißheiten bestand aus der „Anerkennung der DDR“, dem Festhalten an der „Zweistaatlichkeit“ um jeden Preis, der Fortsetzung des antifaschistischen Kampfes und zur Beruhigung ambivalenter Gefühle (Rührung auf lateinamerikanischen Solidaritätsfesten - Ja, auf ostbayerischen Bahnsteigen - Nein) - aus Sarkasmus und Ironie. Horst Eberhard Richter, Friedensanalytiker aus Gießen, erklärte, die Flucht der „armen Entrechteten aus dem Land des Schlimmen“ in „unsere Oase der Seligkeit“ diene der Ablenkung von inneren Problemen der Bundesrepublik. Sein politisch dilettierender Kollege, der Atomphysiker Hans -Peter Dürr, wußte gar von der Gefahr einer Destabilisierung der DDR zu berichten, die das Ziel habe, Gorbatschows Perestroika scheitern zu lassen, um den Interessen der amerikanischen Rüstungsindustrie keinen Schaden zuzufügen. Solche Gedankenakrobatik lenkt allerdings davon ab, wie wenig sich die Linke bisher mit Osteuropa im allgemeinen und der DDR im besonderen beschäftigt hat. Da besteht ein riesiger Nachholbedarf an materialistischer Analyse.

Als die polnische Solidarnosc zu Beginn der achtziger Jahre in den Untergrund gedrängt wurde und Lech Walesa der Liebling nicht nur des polnischen Volkes, sondern der internationalen Massenmedien war, blickten die westdeutschen Dialektiker der Aufklärung weniger auf die real existierenden Verhältnisse in Polen (die zum Himmel schreien) als auf deren Widerschein in den Gesichtern katholischer Bischöfe und reaktionärer Fernsehmoderatoren. Heute, nachdem Oppositionelle wie Jacek Kuron und Adam Michnik, die von prominenten Sozialdemokraten „rechter Tendenzen“ geziehen (und gemieden) wurden und nun zum linken Flügel der neuen polnischen Regierungsmehrheit gehören, kann auch der ehemalige DKP-Hausschriftsteller Peter Schütt in der taz (6.10.89) frohen Herzens den Auftritt des sowjetischen Dichters Jewtuschenko in der Hamburger „Fabrik“ schildern und seine „apodiktische“ Bemerkung zitieren, das System in der Sowjetunion müsse von Grund auf verändert werden: „So weitermachen wie bisher, das wäre totsicher das rasche Ende des Sozialismus“.

Auch die kümmerlichen Reste der ehemals kämpferischen westdeutschen Linken glauben zwar ernsthaft nicht mehr an die Revolution, bestehen aber darauf, daß sie im Ernstfall nur im jeweils „eigenen Land“ stattzufinden habe. Der Ruf „Die sollen lieber drüben (!) bleiben und dort für die Freiheit kämpfen“, kommt aus berufenem Munde, vornehmlich von denen, deren revolutionäre Sehnsüchte nach Chile und Vietnam, Palästina und Nicaragua, Portugal und Kuba emigrierten. In ihrer metaphysischen Enttäuschung möchten sie jetzt niemandem, schon gar nicht sächselnden Trabbi -Fahrern ohne Drei-Wege-Katalysator, erlauben, den schnellen, scheinbar bequemen Weg ins - für sie - gelobte Land zu nehmen, ohne den Nachweis politisch-ideologischer Reife erbracht zu haben (wie Chilenen, Nicaraguaner, Portugiesen und Palästinenser; die vietnamesischen Boat people wurden erst nach reiflicher Prüfung als vollwertige Flüchtlinge akzeptiert).

Die offensichtliche Bevorzugung der DDR-Flüchtlinge als deutsche Staatsangehörige gegenüber Asylbewerbern ließ auch altgediente taz-Redakteure zur „Haut-den-Lukas-Methode“ greifen und von „Wirtschaftsflüchtlingen“ reden, „die sich von der Prosperität der Bundesrepublik ein Scheibchen BMW und ein paar Neckermann-Reisen abschneiden wollen“. Ähnlich wie die Bundesversammlung der Grünen wollen viele ihre Irritation durch Konsequenz aus der Welt schaffen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - offene Grenzen, Bleiberecht für alle. So schön und richtig das universelle Postulat unbeschränkter Einwanderung ist, so trügerisch und unmöglich ist es in Wirklichkeit: Das Recht auf Asyl wäre damit faktisch obsolet geworden, und wenn eines Tages „das Boot“ wirklich voll wäre, blieben die draußen, deren Weg am weitesten und beschwerlichsten war. Ganz zu schweigen von den Elendesten der Elenden, die keine Chance haben, hierherzukommen.

Abstrakte Radikalität ist hier Ausdruck der Flucht vor konkreten Fragen: Was bedeutet es, wenn in kürzester Zeit zigtausende Bürger des sozialistischen deutschen Staates in den kapitalistischen deutschen Staat fliehen? Was folgt aus dem Desaster des „real existierenden Sozialismus“ für das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander, für ihre jeweilige gesellschaftliche und politische Identität? Wohin bewegt sich die Umwälzung der Verhältnisse in Osteuropa? Und: Ist eine gemeinsame Zukunft der beiden deutschen Staaten ohne Staatsgrenzen in Europa denkbar? Statt mutig und kritisch auf die Freiheitsbewegungen (warum nicht: Befreiungsbewegungen?) in Osteuropa zu setzen und von dieser Position aus gegen Deutschtümelei, anachronistische Grenzspekulationen und marktwirtschaftliche Pontifikalamte zu argumentieren - nach dem Ende des Sozialismus wird sich die Welt mit der Zukunft des Kapitalismus zu beschäftigen haben -, versteifen sich viele Linke auf die Pose der selbstgerechten Ankläger. die Pantoffelrevolutionäre mit dem serienmäßig eingebauten guten Gewissen sitzen, man ahnte es immer schon, auch in der Lokalredaktion der 'Frankfurter Rundschau‘. In einem Gastkommentar für die taz schrieb Genosse Andreas Werner gegen den westdeutschen „Antikommunismus“ an und geißelte jene antisozialistischen Kräfte, die sich rühmten, die „Brüder und Schwestern aus den Fängen des angeblichen 'Staatsgefängnisses‘ DDR“ befreit zu haben. Daß am vergangenen Montagabend etwa 70.000 „Brüder und Schwestern“ - also fast doppelt so viel „Hierbleiber“ wie „Ausreiser“ - in Leipzig für demokratische Reformen in der DDR auf die Straße gingen, wird dem Genossen Werner und anderen linken Entlarvungstheoretikern ebensowenig in den Kopf gehen wie der unmittelbare politische Zusammenhang zwischen der jüngsten Flüchtlingswelle und dem neuen Mut zur Revolte in Ost-Berlin, Dresden und Leipzig. Für konkrete Dialektik haben gute deutsche Linke noch nie scharfe Augen gehabt.

Reinhard Mohr