Oberster Sowjet einigt sich auf Streikgesetz

Arbeitsniederlegungen in Schlüsselindustrien bleiben verboten / Unerfahrenheit mit parlamentarischen Gepflogenheiten stiftet Verwirrung beim Fernsehpublikum / Nobelpreisträger Sacharow fordert umfassenderes Streikrecht auch für Insassen der Arbeitslager  ■  Aus Moskau Barbara Kerneck

„Ich wünsche mir sehr, daß wir heute zum Ende dieses sehr wichtige Gesetz annehmen können, das das Volk von uns erwartet“, meinte der stellvertretende Vorsitzende des Obersten Sowjet, Lukijanow, während der zweiten Hälfte der Plenarsitzung am Montag. Sein Wunsch sollte in Erfüllung gehen. Das „Gesetz über das Lösungsverfahren bei kollektiven Arbeitsstreitigkeiten“ ging ohne größere Änderungen der Vorlage über die Bühne, obwohl es an Zusatzanträgen und Verbesserungsvorschlägen nicht mangelte. Einige Dutzend davon hatten zwei Gremien bereits in der letzen Woche nach Vertagung der Entscheidung gesichtet. Im Mittelpunkt der Debatte im Plenarsaal standen die Fragen: Wer soll die Streikfolgen bezahlen? Sollen die Streikkomitees auch nach einem aktuellen Streikfall weiterbestehen? Darf es politische Streiks geben? Wieweit sollen die Grenzen der gesellschaftlichen Bereiche gezogen werden, in denen Streikfälle grundsätzlich ausgeschlossen sind? Zu denen, die nach dem Entwurf nicht streikberechtigt sind, gehören z.B. alle „Beschäftigten“ in der Rüstungsindustrie.

Ein Änderungsantrag der Regierung sah hier die Formulierung „alle mit der Rüstungsindustrie verbundenen“ vor und hätte damit einen sehr viel weitergehenden Personenkreis erfaßt. Für diese Modifizierung stimmten 188 Deputierte und dagegen

-ebenfalls 188. Das Unentschieden - es wurde mit Heiterkeit als absolutes Novum in der Geschichte des Obersten Sowjet aufgenommen - bedeutet, daß der Regierungsantrag abgelehnt ist.

Dies war einer der wenigen Fälle, in denen den Fernsehzuschauern klar wurde, worüber ihr Parlament eigentlich abstimmte. Sie können die Plenardebatten jeden Montag und Dienstag ab 19Uhr in Ausschnitten bis tief in die Nacht verfolgen. Diese Woche hatte das Publikum erstmals Gelegenheit, das neue Abstimmungsverfahren zu erleben, das der Moskauer Abgeordnete Stankewitsch vor acht Tagen durchgestzt hatte, um alternativen Vorschlägen eine größere Chance im Plenarsaal einzuräumen: die Zusatzvorschläge zu jedem Artikel des Gesetzes wurden einzeln abgestimmt, bevor es zur Annahme oder Ablehnung des Artikels insgesamt kam. Da vor der Diskussion nur die Nummern der jeweiligen Änderungsvorschläge genannt wurden und auch die Abgeordneten selbst, denen diese schriftlich vorlagen, sie in ihren Stellungnahmen nicht immer explizit benannten, war die Verwirrung des Publikums vollkommen. Sie wurde noch durch den Umstand gesteigert, daß auch die im Sommer veröffentlichte Gesetzesvorlage bis zu Beginn der Herbstsitzungsperiode des Obersten Sowjet noch wesentlich geändert worden war. Auch aus dem Plenarsaal ertönten bisweilen Zweifel, was gespielt wurde: „Ist das nun eine Zusammenfassung des Vorsitzenden oder eine Neufassung, über die wir hier entscheiden?“ Und der Vorsitzende selbst resignierte gelegentlich: „Laßt uns doch lieber nach Kammern getrennt abstimmen!“

Ob alternativ oder nicht alternativ, die meisten Änderungsvorschläge stießen sowieso auf den Unwillen von mindestens zwei Dritteln der Deputierten. So bleibt es also dabei, daß über Streiks künftig in einem mindestens fünftägigen und maximal dreizehntägigen Schlichtungsverfahren über zwei Instanzen entschieden wird. Letzte Schlichtungsinstanz soll ein Schlichtungsgremium sein und nicht - wie einige Deputierte es befürworteten - ein ordentliches Gericht.

Politische Streiks und solche, die explizit darauf abzielen, eine Regierung zu stürzen oder die Grundpfeiler der Gesellschaft zu verändern, sind von vornherein verboten. Bürgerrechtler Sacharow rief zu mehr Offenheit auf: „Wir alle haben den Gedanken an den politischen Streik die ganze Zeit im Unterbewußtsein.“ Er bezeichnete den politischen Streik als „unverbrüchliches Recht der Werktätigen“. Sacharow, der sich auch für die Zulassung von Streiks in Straflagern aussprach, schlug vor, zur Schadensbegrenzung in solchen Fällen eine besondere zeitliche Begrenzung vorzusehen, über deren Ausweitung dann in den Schiedsinstanzen entschieden werden müsse. Allerdings hatte der Nobelpreisträger den wichtigen Umstand übersehen, daß auch ein solch grundsätzlicher Protest beizeiten hätte der zuständigen Komission vorgelegt werden müssen: „Ich bin noch kein geübter Parlamentarier“. So bleibt eine Hoffnung, der der Deputierte Samarin - selbst Mitglied eines Streikkomitees - Ausdruck verlieh: „Wir können dieses Gesetz nicht zum Auffangbecken für alles machen. Deshalb brauchen wir Zusatzgesetze für andere Formen der Arbeitsverweigerung wie zum Beispiel Meetings, zivilen Ungehorsam usw. Hier müssen wir scharf abgrenzen!“.