Ungarns Sozialisten

■ Rezsö Nyers heißt der Sieger auf dem Parteikongreß

Er selbst hält sich für einen „radikalen Sozialisten“, der Dubceks Frühling in Ungarn verwirklichen will - seine orthodoxen Gegner nennen ihn (siehe das Interview mit deren Anführer Ribanzski) einen „rechten Sozialdemokraten“. Vorläufig hat Rezsö Nyers die Macht in der neuen Partei übernommen - vorbei an den harten Marktwirtschaftlern vom Schlage eines Imre Pozsgays. Die Frage ist, ob die Gesellschaft, ausgerichtet an westlichem Konsum, ihm nicht längst davongelaufen ist.

Ungarn entwickelt sich in rasantem Tempo zu einer Marktwirtschaft. Die Schlangen vor dem Geschäft einer westdeutschen Sportartikelfirma, die Nachricht, daß McDonalds Schnellimbiß in Budapest die Konzernfiliale mit dem weltweit höchsten Umsatz ist, und der Materialismus der Jugend, über den jetzt auch die Oppositionellen klagen, werfen Schlaglichter auf die Umwälzung in der Gesellschaft. Wenn in einem Restaurant der Kellner regelmäßig dann den Fernseher ausknipst, wenn die Nachrichten angesagt sind, dann ist das Interesse an Politik offenbar nicht besonders hoch.

Und das, während die regierende kommunistische Partei gerade beschließt, sich in eine sozialistische nach westlichem Muster umzuwandeln. Nicht die Politik bewegt die Menschen hier in diesen Tagen, sondern ganz andere Fragen: Wie komme ich finanziell über die Runden? Welche Zweit- oder Drittbeschäftigung erlaubt mir den Eintritt in die westliche Warenwunderwelt? Und während sich der Staat endlich zur Gesellschaft hin öffnet, wird bei den Wahlen Anfang nächsten Jahres wohl nur knapp über die Hälfte der Menschen zu den Urnen gehen - glaubt man den neuesten Umfragen.

Der Sieg des

besten Taktikers

Im Saal des Novhotels aber, wo der Parteikongreß tagt, heißt der Sieger im Kampf um das „Weiße Haus an der Donau“, das Gebäude der alten KP, Rezsö Nyers. Ernst und ernsthaft ist der 65jährige. Sein gefurchtes Gesicht wird von aufmerksamen Augen beherrscht, und wenn er spricht, unterstreichen verhaltene Gesten seine Worte. Bei seinen Reden zieht er mit klarer und eindringlicher Argumentation die Menschen in seinen Bann. Nyers hält sich etwas darauf zugute, daß er die bürgerlichen Manieren der Vorkriegszeit niemals verlernt hat.

Seit Montag abend ist er unumstrittener Vorsitzender der neuen Ungarischen Sozialistischen Partei. Über 88 Prozent der Delegierten gaben ihm im Saal des Novhotels ihre Stimmen. Es schadete ihm nicht einmal, daß er zuletzt auch als Präsident der alten USAP (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei) fungiert hatte. Denn als er sich, der vorher noch mit einem Bündnis mit dem Parteiflügel der „Zentristen“ um Generalsekretär Grosz und den ehemaligen Ideologiesekretär Beresc spielte, am Samstag auf die Seite des Reformers Imre Pozsgay schlug, hatte er seinen Streich getan: Die Masse der Delegierten folgte ihm und zügelte zugleich die vorwärtsdrängenden Reformer. Der sich schon als sicherer Sieger fühlende Imre Pozsgay wurde gebremst, der Taktiker Nyers setzte sich letztendlich durch.

Über vier Stunden lang hatten sie am Montag noch hinter den verschlossenen Türen gerungen und schließlich auch für den Parteivorstand einen Kompromiß gefunden. Die 24 neuen Vorständler sind in der Mehrheit unverbrauchte Leute. Zuvor aber gab es noch harte Auseinanersetzungen zwischen Pozsgay und Nyers, Außenminister Horn und Regierungschef Nemeth. Vor allem letzterer, so drang bis zu den Journalisten durch, geht die Taktik von Nyers, um jeden Preis möglichst viele Delegierte auf die Seite der neuen Partei ziehen, gegen den eigenen politischen Strich.

Gewiß, der Name der Partei ist geändert, das Programm trägt deutlich die Züge einer westlichen sozialistischen Partei. Der demokratische Zentralismus ist abgeschafft und die Orthodoxen sind ins Abseits gedrängt. Ob die nun die alte USAP weiterführen oder eine eigene kommunistische Partei formieren, ist für die neuen Sozialisten unerheblich. Eine dogmatische Partei „links“ von ihnen wird die eigenen Wahlchancen zudem nur verbessern. Doch Nyers ist es mit seiner Taktik auch gelungen, den Parteiapparat fast intakt in die neue Ära hinüberzuretten. Und das will Nemeth nicht so stehen lassen.

Erinnerung an 1956

Schon einmal, 1956, wurden, so wie heute, die Roten Sterne von den öffentlichen Gebäuden und den Fabriken abmontiert. Und wenn die Budapester jetzt auch über die Entscheidung schmunzeln, den großen Stern über dem Parlamentsgebäude nicht abzubauen, sondern nur nachts nicht mehr zu beleuchten, so steigen doch bei manchen die Erinnerungen auf: daran, wie schnell eine begeisternde politische Entwicklung wieder abgebrochen werden kann. Zwar ist Ähnliches wie 1956 heute nicht mehr zu befürchten, hat doch Gorbatschow als erster dem neuen Parteichef Nyers gratulieren lassen; doch immer noch bleiben zwiespältige Gefühle zurück, weiß man doch um die noch immer wackelige Position von Gorbatschow - und um das Schwanken der eigenen Kommunisten. Nein, ein Stalinist ist Nyers wirklich nie gewesen. Er hat 1948 als Sozialdemokrat die Vereinigung mit den Kommunisten mitbetrieben. Damals in dem guten Glauben, man müsse aus dem Aufstieg des Faschismus die Lehre ziehen, die Spaltung der Arbeiterbewegung zu überwinden. Doch dann wurde er von der Stalinisierung überrollt. Aber er hat angesichts der Säuberungen stillgehalten - und überlebt. Nach dem Aufstand von 1956 saß er in den Führungsgremien als die Hinrichtung des Reformpremiers Imre Nagy und seiner Gefährten beschlossen wurde. Gewiß, allein konnte er nicht viel tun. 1968 begehrte er ein bißchen auf, stellte ein wirtschaftliches Reformprogramm zur Diskussion und durfte sogar bis 1972 damit beginnen. Als aber aus dem Kreml der Gegenwind gegen solche Experimente stärker wurde, ließ Parteichef Kadar ihn fallen. Vielleicht ist es die Treue zu beidem: dem demokratischen Sozialismus, den er stetig einforderte, und dem Apparat, was ihn immer wieder überleben ließ. Nyers besteht darauf, ein „radikaler Sozialist“ zu sein, will das Adjektiv nicht denen überlassen, die das Land in den Kapitalismus führen wollen und die er „Scheinradikale“ nennt.

Nyers kommt zu spät

Zwar weiß er um die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Reform und befürwortet die Öffnung nach dem Westen. Doch den 68er Traum eines Dubceks, den Aufbau eines demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz hat er noch nicht ausgeträumt.

Und an diesem Punkt wird er für viele Ungarn zum politischen Fossil. Sein Image eines Idealisten mag zwar die Herzen in der Partei noch wärmen und immer wieder zur Versöhnung führen. Kühler analysierende Theoretiker wie der 1987 aus der Partei ausgeschlossene Mihaly Bihary (siehe das Interview in der taz vom 7.Oktober) sehen darin für die neue sozialistische Partei eher ein Klotz am Bein. Denn sie hinderten die Partei daran, klar Schiff zu machen, die wirklich durchgreifenden personellen und strukturellen Veränderungen einzuleiten, vor allem bei den mittleren Kadern, den Provinz-, Bezirks- oder Fabrikchefs.

Für Bihary, einen engen Mitarbeiter von Imre Pozsgay, ist die Glaubwürdigkeit der Gesellschaft dagegen wichtiger als der menschelnde Kitt für die Seele der Partei. Doch die neue Partei ist, auch nach diesem Kongreß, noch immer nicht ganz nach dem Geschmack von Bihary geraten.

Erich Rathfelder